Meinrad Buholzer. Bild: Joseph Schmidiger

Die Rückkehr des Sündenbocks

Von Meinrad Buholzer

Zu den Themen, die derzeit Hochkonjunktur haben, gehören die fluide Sexualität, die polarisierende Bipolarität, die Queerness und so weiter. Für viele ist das ein neues Phänomen. Aber die Diskussion um Männlichkeit und Weiblichkeit im selben Körper beschäftigte die Menschheit seit je. C. G. Jung etwa hielt fest, «dass der Mensch seit undenklichen Zeiten in seinen Mythen immer die Idee der Koexistenz eines Männlichen und Weiblichen in demselben Körper ausgedrückt hat». Bei grundsätzlicher Akzeptanz der biologischen Bipolarität (salopp ausgedrückt: der Hardware) sah Jung in den im kollektiven Unbewussten angelegten Archetypen Animus und Anima (der Software) Möglichkeiten menschlicher Imagination und Emotionalität über die Geschlechtergrenzen hinweg. Neu ist allenfalls, dass diese fluiden Positionen nach dem postmodernen Motto «anything goes» identitätsstiftend geworden sind.

Anderes Thema: Immer wieder hört man die Forderung, die Natur müsse ins Gleichgewicht gebracht werden. Doch Leben entsteht aus Aktion und Reaktion, mal nimmt eine Seite überhand, bis die Gegenkräfte erwachen. Absolutes Gleichgewicht ist Stillstand. «Alles in der Natur funktioniert aus Ungleichgewichten», schreibt der Evolutionsbiologe Josef Reichholf. «Das Wetter, der Wasserkreislauf, das Leben selbst, denn es muss sich fern vom Gleichgewicht halten, da dieses den Tod bedeutet...» (Was man übrigens auch beim Pendel der Uhr sehen kann, und bei der Unruh, die das Räderwerk schrittweise anhält oder freigibt.)

Gleitende Positionen erfahre ich auch in der Politik. Mir fällt keine Partei ein, mit deren Programm ich mich bedingungslos identifizieren kann. Manchmal bin ich konservativ, manchmal liberal, manchmal progressiv (um im medialen Polit-Vokabular zu bleiben, das mir aber zu rudimentär ist). Abgesehen davon hält mich die Hyperventilation der Politiker in der (manchmal bis zu zwei Jahre dauernden) Phase vor den Wahlen auf Distanz.

Und dann ist da noch der Gegensatz von Gut und Böse, der sich mit der Überzeugung richtig oder falsch deckt. Hier neigt der Zeitgeist zur Polarisierung, zum Starrsinn. Dass wir beide Seiten in uns haben, die dunklen und die hellen, dass wir keineswegs immer die makellosen Lichtgestalten sind, als die wir uns präsentieren, ist eine Erkenntnis, die schwindenden Zuspruch findet. Selbstgefälliger Anspruch auf Unfehlbarkeit dagegen ist auf dem Vormarsch, wobei er sich auf unheilvolle Weise mit der Idee der Reinheit verbindet (die ja auch im Rassismus Karriere macht). Und alle sind rund um die Uhr bereit, den ersten Stein zu werfen… Social Media sind geradezu ein Katalysator für reflexionsfreie Rundumschläge auf einer nach unten offenen Vulgaritäts-Skala.

Der kanadische Philosoph Charles Taylor sieht in der Entwicklung der Moderne – vom jakobinischen Gesinnungsterror der Französischen Revolution bis zu den Nationalismen der Gegenwart – eine verhängnisvolle Rückkehr der Sündenbock-Mentalität, die auf die Ordnung der Moral übergreift. Während die Menschen früher in Beziehungsgeflechten (Stämmen, Clans) mit vielen anderen in Verbindung standen, sind die modernen politischen Identitäten auf Gruppen ausgerichtet, die zur Ausschliesslichkeit tendieren. Selbstverständlich okkupieren sie das Gute und Richtige für sich. Verhängnisvoll, so Taylor, «dass allein das Gute der Zielsetzung uns (…) als gut definiert und damit den Weg freimacht, damit wir unsere Selbstintegrität auf einen Gegenpart gründen, der ebenso böse sein muss, wie wir gut sind. Je höher der moralische Anspruch, desto giftiger der Hass und demzufolge auch die Zerstörung, die wir anrichten, ja: anrichten müssen.»

Es bleibt dann nur noch ein kleiner Schritt zur Auslöschung des (willkürlich) definierten «Bösen» im Namen einer selbstgerechten Moral, der jedes Mittel recht ist.

18. Oktober 2023 – meinrad.buholzer@luzern60plus.ch
 

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten (LNN). 1975-2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA). Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten – der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.