Meinrad Buholzer Foto: Joseph Schmidiger

Die Stunde der Denunzianten

In Sachen Corona bewegten wir uns auf einem labilen sozialen und politischen Grund, meint Kolumnist Meinrad Buholzer. Er sieht die Verbissenheit und Gnadenlosigkeit der Rechthaber, die meinen, im Besitz der Wahrheit zu sein.

Von Meinrad Buholzer

Corona und der Lockdown haben mir gute Erfahrungen beschert: die plötzliche Ruhe, die ersatzlose Streichung von Terminen, eine Synkope in der alltäglichen Routine, ein existenzielles Ereignis, mit dem wir nicht gerechnet hatten, jedenfalls nicht in dieser Form, und die Erkenntnis, dass angebliche Zwänge des Systems durchaus nicht sakrosankt sind. Eine kurze Zeit lang schien es möglich, die Zukunft auch ausserhalb des Trampelpfades anzugehen…

     Neben diesen Lichtblicken gab es auch unangenehme und zwiespältige Erlebnisse. Zum Beispiel die Anpöbelung der Alten, die sich trotz «Hausarrest» im Freien bewegten (obwohl der Bund das Einkaufen auch ihnen nicht explizit verboten hatte). Selbst unsere Zeitung fühlte sich zur Observation verpflichtet. Aus Deutschland erreichte uns die Wortschöpfung «Balkonnazi», für jene selbsternannten Ordnungshüter, die vom Balkon aus grimmig die Anordnungen über Abstandhalten und Ansammlungen kontrollierten und gegebenenfalls der Polizei meldeten.

     Und damit wird es ungemütlich. Stellen wir uns vor, die Behörden würden bei einem kommenden Ereignis zur besseren Kontrolle einer Risikogruppe (Alte) ein Abzeichen oder eine Armbinde verordnen. Dann wären wir Gezeichnete. Und in der Gesellschaft würde sich augenblicklich eine Dynamik entwickeln, die sich einerseits aus Neid, Missgunst und Kontrollbedürfnis speist, anderseits aus dem Bewusstsein, auf der «richtigen», weil von der Obrigkeit abgesegneten Seite zu stehen. Mit dem aufgestellten Kamm der Rechtschaffenheit und bedingungslosem Untertanengeist würden sie sich in Szene setzen und niederste Instinkte befriedigen: die Demütigung des zum gefährlichen Feind stilisierten Nachbarn.

     So ungefähr, stelle ich mir vor, begann es auch in den dreissiger Jahren bei unseren nördlichen Nachbarn (und weil es heute Social-Media-Brauchtum ist, jedes Statement zu missverstehen und dem Verfasser böse und unkorrekte Motive zu unterstellen, sei nahtlos und in Grossbuchstaben festgehalten: ICH STELLE UNSERE CORONA-BEDINGTE SITUATION NICHT AUF EINE EBENE MIT DER SITUATION DER JUDEN IM «DRITTEN REICH»! DAS WÄRE UNANGEMESSEN). Ich habe den Eindruck, dass wir uns auf einem labilen sozialen und politischen Grund bewegen und es wenig braucht, um die Stimmung kippen zu lassen. Wenn schon in einem bei uns relativ glimpflich abgelaufenen Ausnahmezustand die Stunde der Denunzianten anbricht, dann frage ich mich, was in einer extremeren Situation wohl geschähe. Dann sucht der selbstgerechte, saturierte Bürger, der sich im Besitz der Wahrheit wähnt und darin noch von den Behörden bestärkt wird, einen Feind. Möglichst einen schwachen, den zu überwältigen ihm nicht viel, vor allem nicht viel Mut abverlangt. Das können Juden sein, aber auch Muslime, die Alten oder eine andere Minderheit, die mehr oder weniger zufällig ins Visier gerät.

     Aus der Luft gegriffene Befürchtungen? Dann erkundige man sich nach der Entwicklung, die gegenwärtig in der Administration der USA abläuft, wo ressentimentgeladene Beamte Aufwind verspüren, ungehemmt mobben und die Gelegenheit nutzen, um – vom Weissen Haus angefeuert - unangepasste Mitarbeiter loszuwerden und die absurdesten Direktiven und Verordnungen durchzusetzen, um den Rechtsstaat auszuhöhlen und Jagd auf angeblich unpatriotische Gegner zu machen.

     Auch bei uns – so der Eindruck – nimmt die Verbissenheit und Gnadenlosigkeit der Rechthaber zu. Simple individuelle Entscheidungen über das zu führende Leben werden plötzlich fundamental, werden zu ersatzreligiösen Dogmen ohne Alternative. Es gibt nur noch eine Richtigkeit: Frau oder Mann, alt oder jung, verheiratet oder single, Kinder oder Kinderlosigkeit, hetero oder homo (und selbst unter den mittlerweile unüberblickbaren sexuellen Ausrichtungen gibt es offenbar tiefe Animositäten), links oder rechts, grün oder nichtgrün, Auto oder Velo oder Fussgänger usw. Der Tonfall dieser auch von den Medien gepushten Dispute und das darin zum Ausdruck kommende Ausschliesslichkeitsdenken (selbst von Leuten, die sonst der Inklusion das Wort reden) verweisen auf eine Klimakatastrophe der andern Art. Auch diese Überhitzung sollte man nicht aus dem Auge verlieren...

5. Oktober 2020 – bum47@bluewin.ch

 

 

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.