Yvonne Volken. Bild: Joseph Schmidiger 

Die Vergessenen

Von Yvonne Volken

«Vergessen Sie das Vergessen nicht, sonst werden sie verrückt.» Eine wunderbar verführerische Zeile des Schweizer Autors Markus Werner. Nur, dass es im Tabuthema «Altersbetreuung» genau umgekehrt ist: Vergessen werden, kann verrückt machen. Oder zumindest zu eigenartigen Phantasien anregen.

«Sie dürfen vergesslich sein», sagte die Psychologin. «Sie dürfen traurig und verzweifelt sein.» Klar, darf ich das! Ich schaue auch zu mir selbst, Fusspflege, Massage, Yoga usw. Das Problem ist nur, dass es zu viele Tage gibt in meinem Leben, wo all das nichts hilft. Ich fühle mich dann ganz einfach hilflos und überfordert. Seit mehr als zwei Jahren gehöre ich zur politisch vergessenen Kategorie der pflegenden und/oder betreuenden Angehörigen, genauer zur Unterkategorie der pensionierten betreuenden Angehörigen im 24-Stunden-Dienst mit fallweiser (sehr liebevoller und kompetenter) Unterstützung durch die Spitex. Wie viele sind wir eigentlich? Dazu gibt es natürlich keine Zahlen. Denn was nichts kostet…

…das gibt es nicht – wirtschaftlich gesehen. So sah es zumindest Adam Smith (1723-1790), der Mann, der als Vater der marktliberalen Ökonomie gilt, als geistiger Übervater der chaotischen, globalisierten Welt von heute also. Für Smith stand fest, dass der Mensch ein ganz einfach konstruiertes Wesen ist: Er handelt nur aus Eigennutz und liefert damit den nie versiegenden Rohstoff, der für Fortschritt, freie Märkte und gesellschaftliche Freiheit nötig ist. Dieser stolze «homo oeconomicus» bewegte sich in einer arbeitsteiligen Welt, die davon lebte, dass es jene gab, die mehr gaben und andere, die schlau genug waren, mehr zu nehmen. Aber einen Haken hatte die Smithsche Theorie.

Gratis-Dienstleistungen kamen darin nicht vor. Wer würde so dumm sein und seinen Service nicht in Rechnung stellen? Tja, und doch ist es eine Tatsache, dass sich Smith ein Leben lang auf die Liebe und Fürsorge seiner Mutter verlassen konnte. Mama sorgte dafür, dass die Pantoffeln des Sohnes schön vorgewärmt waren, das Essen zeitig auf dem Tisch stand, die Spinnweben aus der Zimmerecke gekratzt wurden und, dass das Kaminfeuer nicht ausging (sehr verkürzte Infos aus dem spannenden Buch von Katrine Marçal: «Machonomics»).

Die «Moral von der Geschichte»? Lassen wir uns von Adam Smith und seinen vielen, vielen Nachfolgern nicht Sand in die Augen streuen. Marktliberale Konzepte und das simple Denken des «homo oeconomicus» reichen nicht aus, um ein gut betreutes Altern zu ermöglichen. Outgesourcte Heime im Konkurrenzkampf, die Pflege ökonomisiert bis in die kleinste Streicheleinheit, teure Übergangspflege nach einem Spitalaufenthalt, der gesetzlich ungeregelte Einsatz von (meist aus ärmeren Ländern stammenden) Pflegehilfen zu Hause, das funktioniert nur, solange das private Geld reicht und für den Staat heisst es trotz allem Kosten tragen, während Unternehmungen profitieren.

Und was ist mit uns, den ungezählten vergessenen betreuenden Angehörigen, zumeist Lebens- und Ehepartnerinnen/Ehepartner im AHV-Alter? Oder auch – die etwas weniger vergessenen – Angehörigen im erwerbsfähigen Alter. Sie können sich neuerdings unter hohen Auflagen von einer Spitex anstellen lassen und ihre Pflegeleistungen durch die Krankenkasse abgelten lassen. Oder sie kommen mit viel Glück ins Pilotprojekt der Caritas, das ebenfalls eine Bezahlung für genau definierte Pflegeleistungen vorsieht. Wie sieht unsere Entlastung aus? Wo sind die bezahlbaren Angebote, wo sind die Rahmenbedingungen, die es uns erleichtern, den teilweise jahrelangen Dienst zugunsten unserer Angehörigen zu leisten?

Mehr als 620'000 Menschen über 65 Jahren fehlt es potenziell an Unterstützung, rechnete die Paul-Schiller-Stiftung 2021 in ihrer Studie zu «Kosten und Finanzierung guter Betreuung im Alter» vor. Es gibt einen Bedarf an etwa 20 Millionen Betreuungsstunden, mit einem Gegenwert von 0,8 bis 1,6 Milliarden Franken.

Der Bedarf an Betreuung und Pflege im Alter steigt kontinuierlich, weil wir alle älter werden. Binsenwahrheit. Laut Bundesamt für Statistik wird es 2050 doppelt so viele Seniorinnen und Senioren über 80 Jahren in der Schweiz geben wie heute. Das wären dann rund 800'000 oder fast 10 Prozent der Bevölkerung. Vielleicht, hoffentlich, vermutlich werden Sie auch dazugehören oder ich. Und jede und jeder sollte eigentlich begreifen, dass wir mit der Faust im Sack oder Yoga oder der Beschaffung von Kampfflugzeugen hier nicht weiterkommen und die Schritte hin zu einer «guten Betreuung im Alter für alle» gross sein müssen, schon aus Eigeninteresse (also doch «homo oeconomicus»!) und ihre Zeit brauchen werden – vielleicht bis ins Jahr 2050, das näher ist als es scheint.

Noch sitze ich vergrämt in der Gegenwart fest und wie so oft in solchen Situationen dreht meine Phantasie durch. Dieses Mal führt sie mich ins Oberwallis im Jahr 2050. Viola Amherd, 88, sitzt im Panoramawagen des Zugs Richtung Flugplatz Münster, wie alle zwei Wochen, wenn das Wetter gut ist. Auf gehts zum Segelflug in die Freiheit über den Alpen. Der Arzt hat ihr bestätigt, dass sie geistig und körperlich topfit ist, in der Lage, sich auch in dünner Luft bestens zu orientieren. So wie an ihrem 80. Geburtstag, als die Journaille von ihr wissen wollte, warum sie sich so über den Tisch ziehen liess von den Amerikanern.

Was kann sie denn dafür, dass die F-35-Kampfflieger 20 Jahre nach ihrer Beschaffung noch nicht voll einsatzfähig sind? Was kann sie dafür, dass Kauf und Unterhalt dann schliesslich 10 Milliarden kosteten? Ist doch dem Dölf Ogi auch passiert, damals mit der Neat. 23 statt 18 Milliarden. Hatte er nicht ein Magengeschwür deswegen? Nun, sie wird ihn demnächst mal fragen, am Apéro von Ueli Maurer. Dass der sich das noch antut: Mit 100 Jahren immer noch Bundesrat! Und erst der Dölf, 108 und immer noch am Bergwandern, natürlich ist auch die hübsche Video-Journalistin wieder dabei. Das wird schöne Bilder geben! Über 80 – ein Klacks. Was die immer zu jammern haben!

Vorhang zu und wohlgemut finde ich mich Juli 2022 wieder. An der Pinwand über dem Bürotisch hängt die Karte einer guten Freundin: «Am Ende wird alles gut», steht dort. «Und wenn es noch nicht gut ist, ist es nicht das Ende.»

19. Juli 2022 – yvonne.volken@luzern60plus.ch


Zur Person
Yvonne Volken, geboren 1956, war u.a. als Buchhändlerin, Journalistin, Kulturveranstalterin und Klassenassistentin tätig. Sie kam so mit ganz unterschiedlichen Lebenswelten in Kontakt. Seit ihrer Pensionierung sammelt sie Erfahrungen als betreuende Angehörige – und neuerdings als Grossmutter.