Ehe für alle – Die Veränderungen sind gewaltig

Als historisch wurde das deutliche Ja des Schweizer Stimmvolkes zur «Ehe für alle» bezeichnet. Das hat auch damit zu tun, dass die Lesben und Schwulen mit der Abschaffung der letzten Hürde zu ihrer Gleichberechtigung endgültig in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Aus der Optik der älteren Generation ist diese Entwicklung, die sie innerhalb ihrer Lebenszeit durchlaufen hat, enorm – für sie als homosexuelle Frauen und Männer, aber auch für die Gesellschaft.

Von Max Schmid

Stadt Luzern: 75,7 Prozent Ja: Die Freude darüber, dass drei von vier Luzernerinnen und Luzerner uns das Recht zu Heiraten zugebilligt haben, ist bei Lesben und Schwulen gross. Dass Luthern als einzige Gemeinde im Kanton die «Ehe für alle» abgelehnt hat, ist zu verschmerzen. 26 Kantone sagten Ja und der Kanton Luzern insgesamt gehört zu den Kantonen mit der höchsten Zustimmung. Das hätte ich mir noch vor drei, vier Jahrzehnten nicht im Traum vorstellen können. Die NZZ brachte es auf den Nenner: «Eine Abstimmung wird zum Triumph für die gleichgeschlechtliche Liebe.»

Die Anerkennung der Liebe – das ist ein zentraler Punkt. Rechtlich gesehen stellte die Vorlage keinen Quantensprung dar. Dieser erfolgte 2005, als die Schweiz dem Partnerschaftsgesetz zustimmte.  Die Zustimmung zur Ehe für Lesben und Schwule indes hat einen grösseren symbolischen Wert.

Die Ehe ist neben dem rechtlichen Rahmen, den sie bietet, und dem Versprechen zur Dauerhaftigkeit, das sie abverlangt, auch eine Form, um Liebe sichtbar zu machen. Am Hochzeitsfest werden Verwandte und Freunde eingeladen, diese Liebe zur Kenntnis zu nehmen, sich mit dem Paar zu freuen und ihm einen Platz in der Gemeinschaft zuzugestehen.

Dass diese Anerkennung der Liebe bei homosexuellen Paaren nicht so selbstverständlich gegeben ist wie bei heterosexuellen, versteht sich aus der Geschichte. Noch in meiner Jugend in den 60er Jahren wurden Homosexuelle als Abnormale wahrgenommen, die ihre krankhaften Neigungen in einer Subkultur auslebten. Ihr Weg zu einer selbstbewussten, gesellschaftlich integrierten Minderheit war lang.

Erinnerungen – an Schwulenwitze

Unter den vielen Ja-Stimmenden vom 26. September müssen auch viele meiner Altersgenossen sein: die Generation 60plus. Erinnern sie sich noch, wie die Gesellschaft in Luzern in den 60er Jahren mit dem Thema Homosexualität umging?

Ich besuchte damals das Lehrerseminar. Ich erinnere mich nicht, dass wir je etwas zu diesem Thema gehört hätten. Nur an die Schwulenwitze eines Mitschülers, die mich irritieren, erinnere ich mich. Er hatte sie in irgendeinem Verein, wo er mit Erwachsenen zusammen war, aufgeschnappt. Deutsch- und Geschichtslehrer machten bei Ganymed oder Sokrates Andeutungen, aber eigentlich war das Thema tabu. Ich kannte persönlich in meiner Jugendzeit ausser dem Coiffeur meiner Mutter keine Lesben oder Schwulen. In Deutschland galt noch der Paragraph 175 aus der Nazizeit, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte. Bei uns war sie seit 1942 legal, doch das hielt die Moralwächter nicht davon ab, angeblich schwule Männer in Registern zu erfassen. Viele Luzerner wussten, dass sich Schwule auf dem Inseli und dem Spitteler Quai trafen, oder dass es am Sternenplatz eine Bar, gab, in der sich die «warmen Brüder» trafen.

Homosexualität war Sünde, war «gruusig», dafür sollte man sich schämen. Man schwieg, man hatte Angst, man versteckte sich, manche lebten ein Doppelleben. Jugendlichen, die an ihrer Heterosexualität zweifelten oder bereits ihre homosexuelle Identität gefunden hatten, fehlten Vorbilder und Vorstellungen von einem glücklichen Leben mit einem Partner ihres eigenen Geschlechts.

Dass Frauen Frauen und Männer Männer lieben, ja dass Homosexualiät überhaupt mit Liebe verbunden sein konnte, das erfuhr ich durch Bücher wie Giovanni’s Room von James Baldwin.

Die Gay-Bewegung sorgte für die Wende

Dann kamen aus New York und San Francisco die ersten Signale einer entstehenden Bewegung der Gays. 1969 widersetzte sich nach einer Razzia in der New Yorker Stonewall Inn erstmals eine grosse Gruppe von Homosexuellen der Verhaftung. Das Ereignis wurde zum Wendepunkt im Kampf für Gleichberechtigung der LGBTQ-Bewegung. Anfänglich feierten auch in der Schweiz kleine, dann immer grössere Gruppen in Erinnerung daran die Gay Pride.  Pride heisst Stolz, Stolz statt Scham.

Als ich nach mehreren Jahren im Ausland 1985 an der Pride in Bern die jungen Lesben, Schwulen und Transmenschen in bunten Kostümen, mit frechen Transparenten und Regenbogenfahnen durch die Gerechtigkeitsgasse marschieren sah, stand ich unter den Lauben und schaute ungläubig zu. Dabei waren selbst einige jüngere Arbeitskolleginnen und -kollegen von mir unter den Demonstranten. Ich verstand: in der Schweiz war eine neue Generation auf der Strasse, die keine Angst mehr zeigte.

Der Weg von den Anfängen der Regenbogenbewegung in den 8oer Jahren bis zur Abstimmung über die «Ehe für alle» war oft holprig, aber es ging vorwärts.

Die Regenbogenbewegung in der westlichen Welt ist eine Erfolgsgeschichte – kein Zweifel. Aber ihre Erfolge in den demokratischen Staaten sind nur möglich geworden, weil sich auch die Gesellschaften gewandelt haben.

Auch viele ältere Menschen, die noch in homophoben Umgebungen aufgewachsen sind, wo Homosexuelle als Kriminelle oder Abnormale galten und polizeilich überwacht wurden, haben mit ihrer Stimme den «Triumph der gleichgeschlechtlichen Liebe» ermöglicht.

30. September 2021 – max.schmid@luzern60plus.ch