Günther Rühle, 1924-2021. Bild: zvg

«Ein alter Mann wird älter»

Was für ein schöner Titel und was für ein berührendes Buch. Der deutsche Theaterkritiker Günther Rühle schreibt in einem «merkwürdigen Tagebuch» als 96-Jähriger gegen das Erblinden an – schonungslos mit sich selbst, tröstlich für uns – und nicht ohne Humor.

Von Hans Beat Achermann

Es war der letztmögliche Zeitpunkt, um über sich selbst nachzudenken, denn er hat immer über anderes nachgedacht, und das öffentlich: als einer der renommiertesten Theaterkritiker, als Feuilletonchef und Intendant, als Verfasser von Standardwerken zur Geschichte des deutschen Theaters. Entstanden ist ein Tagebuch, das am 10. Oktober 2020 beginnt und am 17. April 2021 endet. Und so beginnt es: «Nun ist es aus. Vor acht Wochen ging Schreiben und Lesen gerade noch. Drei Untersuchungen, trockene Makula, Altersdegeneration. Man ist wie abgeschnitten von seinem Leben. Ich bin jetzt – fast plötzlich – ein anderer. Ohne Zweck und Sinn.»

Tragik und Komik

Doch es war für Günther Rühle noch nicht ganz aus – im Gegenteil. Die fast gänzliche Erblindung zwang ihn zu etwas Neuem, zum – endlich, möchte man sagen – Nachdenken über das gelebte Leben, wobei viel Ungelebtes zutage kam. Dabei begleitet ihn auch die Angst, die «Angst vor dem noch schlechteren Zustand, der totalen Hilflosigkeit, vor der dem Exitus, nach dem Exitus, nach dem es in mir so oft ruft». Aber auch die Unsicherheit, ob da nicht noch eine verborgene Schuld sei, ist ständige Begleiterin. In dieser «Bewusstseinserforschung» steckt auch viel Tragik drin, wie dieser renommierte Journalist es versäumt hat, ein Verhältnis zu sich selbst zu bekommen. Doch er stellt sich dieser letzten Chance radikal und schonungslos.

Er sei jetzt ein «Hersteller von Wortsalat», schreibt er, denn auf der Tastatur habe jeder Buchstabe «zwei, meistens vier Nachbarn». Der brillante Denker überlässt sich mit seinem bewährten Zweifingersystem ganz den Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen, beschreibt aber auch die zunehmenden Alltagsgebresten. Ur(tragi)komisch die Szene, wie er es kaum schafft, den richtigen Einstieg in die Unterhose zu finden oder wie die Zahnpasta neben der Zahnbürste landet. Und natürlich tauchen in diesem Versinken in den Erinnerungen auch unzählige Anekdoten auf, Begegnungen mit berühmten Theatermenschen, mit Marthaler, Schleef, mit Minetti, mit Stein und Brecht und Bernhard und vielen andern.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Es gäbe hunderte zitierfähige Sätze, merkwürdige, denkwürdige, lustige, selbstironische, unvergessliche und hoffnungsvolle wie diese: «Man kann sich gar nicht vorstellen, wie interessant dieses alt gewordene Leben ist, wenn man noch die Hoffnung hat, es könnten sich Hoffnungen auch erfüllen. Das Altern ist eine Blüte der Hoffnungen im Zustand des Schrumpfens.»

Günther Rühles Hoffnung hat sich erfüllt, dass sein Tagebuch noch im Herbst 2021 erscheinen konnte und mehr als nur wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde. So schrieb der Schriftsteller Moritz Rinke im «Tagesspiegel»: «Das Buch des Jahres stammt von einem alten, weissen Mann. (…) Sein Tagebuch ‹Ein alter Mann wird älter› ist geradezu ein Standardwerk über das Altsein, man könnte auch sagen: über den Versuch, im Alter nicht ‹zu veralten› (…) Ein Endspiel, aber eines, das im Gegensatz zu Beckett ins Positive gewendet ist, ins Würdevolle, sogar manchmal wundervoll Heitere. Oder Surreale.»

Eine von Günther Rühles Hoffnungen aber hat sich nicht erfüllt: 100-jährig zu werden. Er ist am 10. Dezember gestorben. Ich habe es vernommen, während ich am Lesen dieses wunderbaren Buches war.

Günther Rühle: «Ein alter Mann wird älter. Ein merkwürdiges Tagebuch», 230 Seiten, Alexander Verlag Berlin, 2021.

20. Dezember 2021 – hansbeat.achermann@luzern60plus.ch