Buschi Luginbühl. Bild: Joseph Schmidiger

Heute fehlts an Theatermenschen

Von Buschi Luginbühl

Ohne Erinnerung gibt es keine Kultur.
Ohne Erinnerung gäbe es keine Zivilisation, keine Gesellschaft,
keine Zukunft.
(Elie Wiesel)

So wie Karl Bühlmann in seinen Kolumnen durch die Stadt flaniert, werde ich in meinen ein bisschen fabulieren, vor allem über besondere Menschen hier, um dem Vergessen ein bisschen Einhalt zu gebieten.

Vermutlich ist es das Privileg, oder aber der Zwang des Alters, dass Erinnern immer mehr Teil unseres Lebens wird. Tilla Durieux hat einmal gesagt: «Je älter man wird, desto mehr braucht man einen ‹Weisst-du-noch?›-Freund». Tilla Durieux, eine der ganz Grossen des deutschsprachigen Theaters, die, wie Maria Becker, Will Quadflieg, Käthe Gold, Agnes Fink, Margrit Winter, Maria Wimmer, Mathias Wiemann, Therese Giehse, Erwin Kohlund, Hans Ernst Jäger und viele andere grossartige Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne des Stadttheaters Luzern gestanden ist. Eigentlich unglaublich, wen das Haus an der Reuss alles nach Luzern locken konnte. Tilla Durieux hat sich dabei so sehr in die Stadt verliebt, dass sie zum 125-jährigen Jubiläum des Theaters 1964 schrieb, jedes Jahr Luzern zu besuchen, sei für sie eine liebgewordene Gewohnheit.

Dieses Jubiläum führt mich direkt zu den Erinnerungen in dieser Kolumne, obwohl ich damals gerade mal zwölf Jahre alt war. Meine erste Begegnung mit dem Stadttheater war eine Aufführung der Operette «Land des Lächelns», vom Konsumverein (heute Coop) gesponsert (wie nannte man das wohl damals?), das heisst, man konnte verbilligte Billette beziehen. Dass dann durch einen beliebten Schauspieler in der Rolle des Dieners «live» ein Werbespruch eingebaut wurde, stahl mir die ganze kindliche Illusion. Meine Theatererlebnisse waren sonst damals noch «De verschüttet Brunne», «De bös Geischt uf de Breiti» oder «De Wittlig»,
in der vordersten Reihe im Saal des Hotel Pilatus in Kriens. Dort sahen wir dank dem «Fip-Fop»-Club auch die ersten Filme mit Laurel & Hardy, Buster Keaton, Charly Chaplin oder Pat & Patachon. Aber das ist eine andere Geschichte und vielleicht auch mal eine Kolumne wert. Nur kurz ein Zitat aus einer Arbeit über diese recht einmalige kulturelle Unternehmung: «‹Fip-Fop›, scheinbar eine Art Geheimcode für kindliche Kinoerfahrungen, die selbst fünfzig Jahre später die Augen von Interviewten leuchten lässt. ‹Fip-Fop› ist gleichsam der magische Begriff, der das kollektive Gedächtnis jener Kinder aktiviert, die von den späten 1930er- bis zu den späten 1950er-Jahren das Kino besuchten.»

Aber zurück zum Theater. Sagt Ihnen der Name Horst Gnekow noch was? Er war von 1961 bis 1968 Generalintendant am Stadttheater Luzern. Und er war irgendwie schuld, dass ich letztlich nach einigen Umwegen beim Theater gelandet bin. Eigentlich wunderbar, dass der Begriff «schuld sein» auch was Positives beinhalten kann. Einzig der «Schuldige» weiss meistens nichts von seinem «Vergehen». Das soll jetzt keine verkürzte Biografie von mir werden, aber Horst Gnekows Theaterverständnis ist immer noch, oder gerade wieder so aktuell, dass es mich ins Stadtarchiv getrieben hat. Leider habe ich nicht viel Neues über seine Arbeit gefunden, aber doch einige interessante Sachen aufgespürt, die gerade in letzter Zeit wieder an Bedeutung gewonnen haben. Ich muss hier ein Geständnis ablegen. Ich finde die Idee eines Theaterneubaus für weit über hundert Millionen Franken einen Irrsinn, aber habe beschlossen, mich nicht aktiv dagegen zu engagieren. Für einmal kann ich mit ruhigem Gewissen schreiben: «Dazu bin ich zu alt». Aber wissen Sie noch, dass die ganze Diskussion schon einmal stattgefunden hat, mit einer Volksabstimmung am 2. Februar 1964, die, trotz Jubiläumsjahr, mit 3760 Ja gegen 5878 Nein deutlich abgelehnt wurde? Damals ging es um eine Bausumme von zirka acht Millionen Franken. Der Stadtrat, unter der Leitung des Stadtpräsidenten Paul Kopp, der sich in seinem Amt kulturell sehr engagiert zeigte, sprach sich gegen die Initiative der Jungliberalen aus.

In einem mehrseitigen Papier führte er zehn Punkte auf, die gegen einen Neubau sprachen, zum Teil wären die Gegenargumente wohl heute die gleichen. Interessant fand ich eine Textstelle in Punkt 10. Da schreibt er: «Abschliessend sei festgehalten, dass sich das Stadttheater Luzern mit seiner langen Tradition in Fachkreisen und beim Publikum eines Ansehens erfreut, das gerade in den letzten Jahren dank ernsthafter künstlerischer Arbeit immer mehr gefestigt werden konnte und unserer Bühne laufend neues Stammpublikum zuführt.» Was für eine beneidenswerte Äusserung, gerade im Hinblick auf eine Zeitungsmeldung in der «Süddeutschen Zeitung» vom 30./31. Juli, dass die Zuschauerzahlen in Deutschland, Österreich und der Schweiz in der Saison 2020/2021 drastisch eingebrochen seien. Sicher dürfte dies auf die Corona-Pandemie zurückzuführen sein, aber wie Umfragen zeigen, nicht nur.

Ich komme auf Abwege. Zurück zum Luzerner Theater. Die zitierte Feststellung des Stadtpräsidenten ist also zum grossen Teil auch auf die Arbeit des damaligen Intendanten Horst Gnekow zurückzuführen. Was er auf einmalige Art verstand war, «Theater für seine Stadt» zu machen, aber so interessant, ja einmalig, dass dieses internationale Beachtung fand. Er brachte in Luzern erstmals wieder den «Kommunisten» Brecht auf eine westliche Bühne und seine Aufführung von Peter Weiss’ «Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats…» brachte einen Peter Brook als Besucher nach Luzern. Für uns war damals klar, das ist «unser Theater». Das hatte auch damit zu tun, dass Schauspielerinnen und Schauspieler aus dem Ensemble quasi zu uns gehörten, sich im «Schiff» oder im «Barbatti» – Beizen, in denen man sich traf – selbstverständlich unter die Leute setzten. Bei uns Jungen war dies vor allem Jens Scholkmann. Ich erinnere mich an unzählige Diskussionen über Gott und die Welt. Und die Metamorphose gelang, am Abend stand nicht irgendein unnahbarer «Star» auf der Bühne, sondern einer von uns.

Ich habe mich lange gefragt, wie ich diese Situation, ja diesen Zustand irgendwie vermitteln könnte. Eine mögliche Antwort fand ich in einem Text von Horst Gnekow zu eben diesem Jubiläum. Er schreibt da: «(…) wie auf so vielen Gebieten haben wir auch im Theater hervorragende Spezialisten, eigenwillige Regisseure brillante Schauspieler etc., was aber den meisten von ihnen fehlt, ist das Gefühl für die Universalität der Bühnenarbeit, das Verantwortungsgefühl, an welcher Stelle auch immer, das Beste beizutragen für das Gelingen des Ganzen, die grosse Sache des Theaters». Und dann zitiert er den grossen französischen Theatermenschen Jean Louis Barrault: «Wer bereit ist, aus Liebe zu einigen Quadratmetern Bretterboden und aus Begeisterung für das Stück Leben, das auf diesen Brettern entstehen kann, alles auf sich zu nehmen und jede Kleinigkeit und jede Schmutzarbeit mit der gleichen Liebe zu tun, mit der er eine grosse Rolle spielt oder eine faszinierende Regie führt – das ist ein Theatermensch. Wer sich auf seine Rolle beschränkt und sich mit den unscheinbaren Nebensächlichkeiten des Theaterberufes ‹abfindet›, kann ein hervorragender Theaterkünstler sein, aber niemals ein Theatermensch.»

Er schreibt dann weiter, dass es sein Bestreben sein werde, viele echte Theatermenschen für «unser Luzerner Theater» zu gewinnen, und das bestehende Band zwischen Bühne und Publikum am Haus an der Reuss immer enger zu knüpfen. Das war sein «Rezept», das die Ära Gnekow so einmalig machte, und was es vielleicht am deutschsprachigen Theater wieder vermehrt zu bedenken gäbe.

7. August 2022 – buschi.luginbuehl@luzern60plus.ch


Zur Person
Buschi Luginbühl, Jahrgang 1942, ist in Kriens geboren und aufgewachsen. Nach der Weiterbildung als Architekt tätig. 1978 beruflicher Neubeginn. Zweijährige Stage bei Schweizer Radio DRS, dann freischaffender Regisseur für Hörspiel & Satire. Schauspielausbildung, Engagements im In- und Ausland. 30 Jahre zusammen mit Franziska Kohlund Leiter der freien Theatertruppe IL SOGGETTO (u.a. mit Margrit Winter, Erwin Kohlund und Peter Brogle). Arbeitet bis heute als Regisseur und Bühnenbildner im In- und Ausland. Diverse Publikationen zum Theater. Er lebt in Luzern.