Kolumnist und Regisseur Buschi Luginbühl. Bild: Joseph Schmidiger

Ein Ewiggestriger?

Von Buschi Luginbühl

Bin ich nun endgültig ein Ewiggestriger geworden, obwohl ich mir geschworen habe, dass mir das nie passieren wird? Ich muss gestehen: Ich habe mich bei meiner Auszeit in Hamburg vor allem auch auf die verschiedenen Theateraufführungen gefreut – und bin dreimal in der Pause gegangen. Im Thalia-Theater war «Der Geizige» von Molière zu einem grobschlächtigen Schwank verkommen, in den Kammerspielen schwirrte Hedda Gabler als barfüssiger, nerviger Teenie über die Bühne und im St.-Pauli-Theater wurde die «Dreigroschenoper» zu einem amerikanisch angehauchten Musical, in dem der arme Peachum Federfächer schwingend durch das Stück tanzen musste. Aber vielleicht liegt es ja wirklich an mir…

Ein kleiner Trost bleibt mir dennoch: Ich bin nicht der Einzige, der sich diese Frage stellt. In einer meiner früheren Kolumnen habe ich geschrieben: «Tilla Durieux hat einmal gesagt: Je älter man wird, desto mehr braucht man einen ‹Weisst du noch?›-Freund.» Und einem davon bin ich kürzlich begegnet, einiges jünger als ich. Und wir erinnerten uns, wie wir in den Jura gefahren sind, um in La Chaux-de-Fonds eine Aufführung des «Living Theatre» zu besuchen. Charles Joris, der dort 40 Jahre ein einmaliges Theatermodell realisiert hatte, holte immer wieder interessante Theatertruppen in die Uhrenstadt. Übrigens, seine beispielhaften Arbeiten gingen vom deutschsprachigen Theater mehr oder weniger unbeachtet über die Bühne – einzig Felix Rellstab, der damalige Direktor der Schauspiel-Akademie, holte ihn für ein paar Gastspiele nach Zürich.

Stichwort Zürich. Was haben wir dort für wunderbare Aufführungen gesehen: Das «Bread and Puppet Theatre», Ariane Mnouchkines «Théâtre du Soleil», mehr als einmal Stücke von Peter Brook, von Dario Fo. Unvergesslich die eindrücklichen Inszenierungen von Tadeusz Kantor, Giorgio Strehlers «Diener zweier Herren», Luca Ronconis «Orlando Furioso» oder Roberto De Simones «La gatta Cenerentola» mit der «Nuova Compagnia di Canto Popolare»… (Zu verdanken sind diese einmaligen Theatererlebnisse Christoph Vitali und Nicolas Baerlocher. Letzterer ist dem Schweizer Theaterlexikon ganze drei Hinweise wert und verstarb 2021 einsam und vergessen. Einzig Daniele Muscionico widmete ihm in der NZZ einen würdigen Nachruf.)

Ewiggestrig? Vielleicht. Aber unbestritten war es gesellschaftspolitisch engagiertes, bildstarkes Theater ohne belehrenden Zeigefinger, das uns da gezeigt wurde.
Mir scheint, ein Begriff sei im zeitgenössischen deutschsprachigen Theater verloren gegangen: die Parabel. Eine Formulierung im Internet umschreibt sehr schön, was ich damit meine: «Man kann das Charakteristische dieser Literaturform im Sinne einer Eselsbrücke auch an einer geometrischen Parabel verdeutlichen: Die beiden Parabeläste stehen dann für Bild- und Sachebene der Erzählung. Im Scheitelpunkt steht das abstrakte Bindeglied zwischen Erzähltem und Gemeintem, welches das verstehende Publikum sich selbst erschliessen muss oder kann».

Vielleicht liegt der Beginn dieses «Übels» in der frühen deutschen Theatergeschichte, so wie es Dieter Heimböckel beschreibt. «Harlekin ist ein Meister der Verwandlung und ein Lebenskünstler. Er beherrscht die Kunst des Lebens so sehr, dass der Tod keine Freude daran findet, sich mit ihm abzugeben. Und wenn man ihn mit Gewalt ins Jenseits befördern will, so steht er wie sein neapolitanischer Glücks- und Leidensgenosse Pulcinella unfehlbar wieder von den Toten auf. Sein Talent zur Unsterblichkeit hatten schon Johann Christoph Gottsched und die Schauspielerin und Theaterprinzipalin Friederike Caroline Neuber unterschätzt, als sie glaubten, mit der 1737 effekthascherisch inszenierten Vertreibung des Hanswursts von der Bühne der Harlekin-Figur im deutschen Theater den Garaus machen zu können». Ist es nun doch noch traurige Realität geworden?

27. Mai 2023 – buschi.luginbühl@luzern60plus.ch
 

Zur Person
Buschi Luginbühl, Jahrgang 1942, ist in Kriens geboren und aufgewachsen. Nach der Weiterbildung als Architekt tätig. 1978 beruflicher Neubeginn. Zweijährige Stage bei Schweizer Radio DRS, dann freischaffender Regisseur für Hörspiel und Satire. Schauspielausbildung, Engagements im In- und Ausland. 30 Jahre zusammen mit Franziska Kohlund Leiter der freien Theatertruppe «Il Soggetto» (u. a. mit Margrit Winter, Erwin Kohlund und Peter Brogle). Arbeitet bis heute als Regisseur und Bühnenbildner im In- und Ausland. Diverse Publikationen zum Thema Theater. Er lebt in Luzern.