Bernadette Lechmann: „Die Aufgaben finden mich“

Von Marietherese Schwegler (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Wenn sich die bald 69-jährige Bernadette Lechmann an ihre Ursprungsfamilie und frühere Lebensstationen zurückerinnert, denkt sie unwillkürlich: „Das heute, das ist wie ein anderes Leben.“ Damals die Familie im dörflichen Umfeld der Ostschweiz. Der Vater Lehrer, die Mutter Damenschneiderin, die zudem den Dorfladen mit Kolonialwaren und Mercerie führten. Und Bernadette zeitlich genau zwischen zwei älteren und zwei jüngeren Brüdern geboren.

Zwischen Autonomie und Gemeinschaft

„Wo ist eigentlich mein Platz?“ musste sie sich als einziges Mädchen inmitten dieser Brüderschar oft fragen. Das Gefühl, nirgends richtig dazuzugehören, wurde noch verstärkt durch zwei Umzüge der Familie während der Primarschule; da musste sie jedes Mal ihren Platz im bestehenden Klassengefüge neu finden. „Da habe ich wohl aus Not eine spezielle Begabung entwickelt: die Balance halten zwischen Individualität und Gemeinschaft“, meint Bernadette rückblickend. Diese Fähigkeit hat sich später in ihren Ausbildungen und beruflichen Umfeldern wie auch in ihrem privaten Leben – Bernadette ist Single und hat keine Kinder – wiederholt bewährt. Augenzwinkernd sagt sie, früher sei sie ein „Autonömli“ gewesen, was heisst: Alles selber machen, Autonomie stärker gewichten als abhängig sein oder sich in eine Gruppe einfügen. Heute lebt sie gut mit dem bewährten Sowohl-als-auch.

Der ungeplante Sprung nach Afrika

Nach der Sek in Rapperswil folgte das für die damalige Zeit obligate Jahr in einem Institut in Estavayer-le-lac, um Französisch zu lernen. Danach machte Bernadette ihre erste Berufsausbildung, sie wurde Arztgehilfin. Und genau dieser Beruf sollte ihr bald die Chance verschaffen, aus der Ostschweizer Welt auszubrechen. Das dank der Kontakte ihres älteren Bruders, der als Privatlehrer bei einer Arztfamilie in Ruanda wirkte. Ende 1967 kam der Brief aus Afrika: Gesucht wurde eine Laborantin für ein kleines Spital in Ruanda, konkret gefragt war Bernadette. Die war sehr angetan. Zum Mix aus Abenteuerlust und jungmädchenhaftem Albert-Schweitzer-Ideal kam die Chance, aus der eng-katholischen Familie ausbrechen zu können. Ganz ungeplant.

Sie kündigte ihre Stelle und traf wenige Monate später in Ruanda ein. Die Umstände ihrer Arbeit im Spital waren ungewohnt. So haben Ärzte, wenn der Generator ausfiel, auch mal im Licht einer unter den Arm geklemmten Taschenlampe operiert. Neu war für Bernadette, dass sie zwei bestandene Familienväter in Laboruntersuchungen weiterzubilden hatte, was diese sich in der gerade zu Ende gegangenen Kolonialzeit von der jungen Weissen auch gefallen liessen. Zumal diese zu improvisieren wusste. Der Strom fiel nämlich regelmässig aus, was auch das Mikroskopieren im Labor erschwerte. Nur, Bernadette hatte den Trick bald raus: Wenn sie den Spiegel am Mikroskop genau nach einem Glasziegel im Dach ausrichtete, reichte das einfallende Licht knapp aus, um Parasiten im zu untersuchenden Blut zu erkennen. Nach einem Jahr in Ruanda kehrte Bernadette in die Schweiz zurück, arbeitete eine Weile in einer Luzerner Arztpraxis, nur um später mit einer Kollegin für weitere zwei Jahre nach Afrika zurückzukehren, diesmal für die Organisation Interteam nach Uganda.

Neue Berufswege: Vom Sozialen …

Inzwischen wurde Bernadette ihr Wunsch deutlich, vertiefter mit Menschen zu arbeiten. Sie suchte nach einer weiteren Ausbildung in diese Richtung, bewarb sich aus Uganda schriftlich um einen Studienplatz an der Abendschule für Sozialarbeit in Luzern – und wurde in Abwesenheit „sur Dossier“ aufgenommen. 1973 war denn auch das Jahr, in dem Bernadette und ich uns als Studienkolleginnen an der Soz kennengelernt haben.

Das Grundstudium in Sozialarbeit und ihre Lust auf handwerklich-gestalterisches Schaffen mit der Begleitung von alten oder psychisch kranken Menschen zu verbinden: Das gelang in ihren nächsten beruflichen Stationen als Beschäftigungstherapeutin in einem Altersheim und als Ergotherapeutin in der Psychiatrischen Klinik, wo sie nach einem Studium der Kunst- und Ausdruckstherapie die Abteilung für Gestaltende Therapien leitete. Dazwischen lag wieder ein Auslandaufenthalt: Sie machte 1988 den Master in Kunst- und Ausdruckstherapie in den USA. Nach all den Lehr- und Wanderjahren im Ausland ist Bernadette schliesslich angekommen zu Hause und bei den eigenen Fähigkeiten, die sie auch hier laufend weiterentwickelt hat.

… zur Kreativität

Das neue Studium brachte eine Veränderung zum eher künstlerischen Schaffen – etwas, was Bernadette für sich privat bis heute verfolgt. Ihre mit eigenen Werken aus unterschiedlichsten Materialien belebte Wohnung zeugt von ihrer Kreativität. In den 1990er-Jahren wagte sie den Sprung in die Selbständigkeit. In ihrer Praxis bot sie Kunst- und Ausdruckstherapie sowie Supervision an. Ungefähr ab dieser Zeit war sie zudem als Dozentin und Ausbildungsleiterin an verschiedenen Instituten und Berufsschulen tätig.

Natürlich waren Reiselust und Neugier auf fremde Kontinente mit der Rückkehr aus Afrika nicht plötzlich weg. Zwischendurch reiste Bernadette alleine zum Beispiel ein Jahr durch Lateinamerika, wo sie nicht ganz ungefährliche Treckings und andere Risiken letztlich unbeschadet überstand. Als ihr dort nach fünf Monaten der Rucksack mit ihrem ganzen Hab und Gut gestohlen wurde, habe sie nach dem ersten Schreck gedacht „Jetzt beginnt die Reise eigentlich erst richtig!“, erzählt sie.

Couragiert und überlebenstüchtig

Und macht einen Gedankensprung ins Jahr 2000 in Luzern. Eines späten Abends auf dem Heimweg vom KKL bemerkt sie plötzlich, dass sie verfolgt wird. Zwei Männer packen sie, werfen sie in die Garageneinfahrt der Siedlung, in der Bernadette wenige Monate zuvor ihre neue Wohnung bezogen hat. Sie entreissen ihr die Tasche. Mit einer Waffe pressen sie den Bankcode aus ihr heraus. Der eine Mann rennt davon, während der andere sie ein halbe Stunde lang permanent mit der Waffe in ihrem Nacken zum Ruhigsein zwingt. „Ich sterbe jetzt nicht!“, denkt sie. Selbst in dieser Situation des völligen Ausgeliefertseins versteht sie einzugreifen und verwickelt den Täter in ein Gespräch. Schliesslich erhält der Peiniger einen Anruf vom Komplizen, drückt sie in die Ecke und rennt davon. „Drei Jahre Afrika, ein Jahr Lateinamerika. Und nie war ich so an Leib und Leben bedroht wie vor der eigenen Tür!“ Dass die Täter später gefasst wurden, hat sie erleichtert. Entscheidend für sie war jedoch die grosse Unterstützung der Nachbarn, die sie noch in jener Nacht und danach erfahren durfte.

Was hat Bernadette so kämpferisch und überlebenstüchtig gemacht? Vielleicht ihre Fähigkeit, sich Gegebenem nicht zu widersetzen. Sich zu sagen: „Es ist jetzt so.“ Und dennoch selbstverantwortlich das beizutragen zur Bewältigung, was sie eben kann. So hält sie es auch, seit bei ihr vor zehn Jahren eine schwere Krebserkrankung diagnostiziert wurde: „Ich vertraue den Ärzten. Aber ich will informiert sein und mit meinen eigenen Bewältigungsstrategien ernst genommen werden.“

Sich von neuen Aufgaben finden lassen

Als Bernadette ihre beruflichen Engagements nach und nach reduzierte und vor wenigen Jahren ganz aufgab, stellte sie sich die Frage: Was mach ich jetzt mit all der Zeit? Was gibt es, das für mich auch sinnvoll ist? Schliesslich dachte sie: „Ich muss nicht nach neuen Aufgaben suchen – sie finden mich, wenn ich offen bin.“ Und so geschah es. Bernadette wirkt zum Beispiel in der Gruppe „Die närrischen Alten“ mit, einem Laienensemble, das sich dem Playback Theater verschrieben hat. Sie ist aktives Mitglied bei Zeitgut, einer Genossenschaft für Nachbarschaftshilfe, und sie hat in ihrer Wohnsiedlung verbindliche Funktionen in der Verwaltung übernommen. Zudem macht sie täglich Waldspaziergänge, Tai Chi- und Yoga-Übungen und pflegt intensive Kontakte mit Freundinnen und Freunden. „Das alles unterstützt mich auf meiner lebensbegleitenden Suche nach mehr Klarheit und Gelassenheit.“ Ausserdem dürfe ihr jetzt durchaus auch mal langweilig sein, findet Bernadette. Nur, bei ihr kann ich mir das bei so viel Enthusiasmus schlecht vorstellen.

Einmal im Lauf des Gesprächs fällt mein Blick auf eine an die Magnettafel in der Küche geheftete Karte: „Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten, weitergehen“. – Passt, finde ich, perfekt zu Bernadettes Lebenseinstellung.
8. August 2016