Der Luzerner Arzt Rudolf Bucher 1941 bei der Abfahrt in Bern an die deutsche Ostfront. Bilder: Screenshots aus alten Filmbeiträgen (Autoren unbekannt)

Serie «(Fast) vergessen»

Eine Reise in die Finsternis

Der gebürtige Luzerner Arzt Rudolf Bucher (1899-1971) war Mitglied einer Ärztemission, die 1941 an die deutsche Ostfront reiste. Der Bundesrat verbot ihm, über das dort Erlebte zu berichten.

Von Beat Bieri

An einem regnerischen Oktobertag im Kriegsjahr 1941 besteigt der Luzerner Arzt Rudolf Bucher in Bern den Zug für eine lange Fahrt Richtung Osten, zu einer Reise in die Finsternis.

Bucher gehört zu einer Gruppe von rund 80 Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern. Zahlreiche Angehörige sind zum Abschied aufs Perron gekommen, auch der deutsche Botschafter in Bern ist da. Es spielt eine Marschmusik, und die Schweizer Filmwochenschau filmt. Gefeiert wird eine leuchtende humanitäre Mission in dunklen Zeiten. In Wahrheit ist es ein Unternehmen zur Unterstützung des nationalsozialistischen Angriffskriegs in Russland, ein eklatanter Bruch der stets beschworenen Neutralität.

Abschied der Ärztemission mit Marschmusik im Berner Bahnhof.

Initiiert worden war die freiwillige Mission, der bis 1943 noch drei weitere folgen sollten, vom Schweizer Botschafter in Berlin, Hans Frölicher, und dem Aargauer Divisionskommandanten und Chirurgen Eugen Bircher. Soweit bekannt war der deutschfreundliche Hitler-Bewunderer Bircher kein Mitglied einer Schweizer Nazi-Organisation. Doch als Antisemit und Antibolschewist wollte er Hitler bei seinem Krieg gegen den Kommunismus unterstützen: «Wir danken dem Führer, dass wir, die Schweizer Ärztemission, teilnehmen dürfen am Kampf gegen den Bolschewismus.» 

Mission in Fantasieuniform
General Guisan war gegen diese Mission. Die Vorstellung, dass unter Schweizer Flagge deutsche Soldaten an der Ostfront gepflegt werden sollen, war ihm zuwider. Auch die Schweizer Regierung wollte nicht als offizieller Schirmherr dieser Reise in Erscheinung treten, tolerierte jedoch das Vorhaben. Bircher gelang es, als Leitungsmitglied des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) dieses dazu zu bewegen, das Patronat für diese Mission zu übernehmen, was das SRK mittlerweile bedauert. Gekleidet waren die Missionsteilnehmenden in eine Fantasieuniform.

Bircher hatte für diese Mission mehrheitlich deutschfreundliches Personal rekrutiert, darunter Ärzte, die deutschen Offizieren mit dem Hitlergruss begegneten. Rudolf Bucher allerdings war aus anderen Motiven an die deutsche Ostfront gezogen: Als Forscher im Bereich der Bluttransfusion und Chef des Bluttransfusionsdienstes der Armee wurde er von seinen militärischen Vorgesetzten ermuntert, sein ärztliches Wissen unter Kriegsbedingungen zu erweitern. Und es darf ebenso vermutet werden, dass bei den meisten Teilnehmenden auch die Abenteuerlust zu dieser speziellen Reise motiviert hatte.

Im Lazarettzug Richtung Krieg
Fast zwei Wochen dauert die Fahrt in einem deutschen Lazarettzug über Berlin ins russische Smolensk. Im Bahnhof von Warschau erblicken die Schweizer eine Gruppe armseliger jüdischer Menschen, beaufsichtigt von jungen SS-Soldaten, zur Reise nach Osten gezwungen. In Gegenrichtung Züge mit deutschen Verwundeten, dann russische Kriegsgefangene, zusammengepfercht in offenen Kohlenwagen. Tagelange Fahrt durch eine trostlose, menschenleere Landschaft, dann wieder vorbei an zerschossenen Siedlungen. Aus dem Fenster Blick auf ein Lager mit verwahrlosten russischen Kriegsgefangenen.

Gelegentlich hält der Zug unvermittelt auf offener Strecke und die mitfahrenden SS-Soldaten beziehen mit ihren Waffen Stellung um die Wagen. Gewehrschüsse, Weiterfahrt Richtung Krieg.

Der Aargauer Offizier und Hitlerfreund Eugen Bircher (l.) – hier mit deutschen Offizieren – war Mitorganisator der Schweizer Ärztemissionen an die Ostfront.

Am Ziel ihrer Reise, im zerstörten Smolensk, wird auch dem Letzten klar, dass die Benennung dieser Reise als «humanitäre Mission» eine Lüge ist. Die Schweizer Ärzte dürfen keine russischen Kriegsgefangenen oder Zivilisten behandeln. Und was sie zu diesem Zeitpunkt nicht wissen: Sie unterstehen nicht den humanitären Satzungen des Roten Kreuzes, sondern dem deutschen Militärstrafrecht, das für Widerhandlungen die Todesstrafe vorsieht.

Zeugen von deutschen Greueltaten
Die Zustände im behelfsmässigen deutschen Lazarett sind grauenhaft. Die Schweizer Missionsteilnehmer werden Zeugen von deutschen Gräueltaten, erfahren von den Zuständen in den Konzentrationslagern. Rudolf Bucher erlebt im Morgengrauen die Erschiessung von 62 russischen Geiseln, Männern, Frauen, Kindern.

Entsetzt von diesen Erlebnissen versucht Bucher nach seiner Rückkehr in die Schweiz, die Bevölkerung in zahlreichen Vorträgen über die deutschen Verbrechen aufzuklären – bis ihm der Bundesrat dies untersagt, auch auf Betreiben von Eugen Bircher. Den Missionsteilnehmern ist verboten, über das Erlebte zu sprechen. Erst 1967 kann Rudolf Bucher ausführlich Zeugnis ablegen in seinem Buch «Zwischen Verrat und Menschlichkeit», ein erschütterndes Dokument menschlicher Niedertracht.

Kaum Spuren in Luzern
Rudolf Bucher wird in Berichten gelegentlich als «Zürcher Arzt» beschrieben. Doch er wurde 1899 als Sohn einer Arztfamilie in Luzern geboren und 1971 starb er ebendort. In den 72 Jahren seines Lebens hat er in Luzerner Archiven allerdings kaum Spuren hinterlassen, in anderen jedoch schon: Arztpraxis in Zürich, Dozent an den Universitäten Basel und Zürich, über 100 wissenschaftliche Publikationen, Präsident der Schweizerischen Lebensrettungsgesellschaft, LdU-Politiker im Züricher Kantonsrat und im Nationalrat, 1953 Mitgründer der Rettungsflugwacht.

Auch sein Gegenspieler, der nazifreundliche Aargauer Chirurg und Organisator der  Ärztemission, Eugen Bircher, kann einen eindrücklichen Lebenslauf vorweisen: Gründer von Bürgerwehren gegen befürchtete sozialistische Aufstände (darunter die Aargauische Vaterländische Gesellschaft), Divisionskommandant, Präsident der Schweizer Offiziersgesellschaft, 1942 Kämpfer gegen die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen («Sie werden ihr Gift ausstreuen», die liberalbürgerliche National-Zeitung nannte er «ein Saujudenblatt»). 1936 wurde der Bewunderer Hitlers zum Mitgründer der schweizweiten BGB (heute SVP), für die er in den Nationalrat einzog. Wo er wieder auf Rudolf Bucher traf.

Quellen:
- «Zwischen Verrat und Menschlichkeit», Buch von Rudolf Bucher, 1967 (Buchclub Ex Libris Zürich)
- «Spuren der Zeit», SRF DOK, 1991 (Interviews mit Rudolf Bucher)
- «Ab an die Ostfront», NZZ (11.2.2020)
- Historisches Lexikon der Schweiz

15. November 2025 – beat.bieri@luzern60plus.ch