Linguistin Helen Christen. Bild: Joseph Schmidiger

Erlebnitis

Von Helen Christen

«Dieses Erlebnis werde ich lange nicht vergessen.» Diese Formel hat einen hohen Beliebtheitswert in der landläufigen Schriftlichkeit. Sie beendet erfolgreich Schulaufsätze mit Titeln wie «Mein schönstes Ferienerlebnis» oder «Unsere Schulreise». Gerne werden auch Einsendungen an Lokalblätter mit diesem Satz – dann im Plural: «Dieses Erlebnis werden wir lange nicht vergessen.» – abgeschmeckt. Sei es die Einweihung der neuen Vereinsfahne oder der Ausflug der Feuerwehr-Veteranen, die Schreiberinnen und Schreiber möchten zum Ausdruck bringen, dass das zu Papier gebrachte Ereignis vielleicht (oder hoffentlich) noch über Generationen hinweg im kollektiven Gedächtnis haften bleibt.

Uns ist eine (un)gewisse Lebensspanne gegönnt, die wir erleben können. Unter «Erleben» jedoch verstehen wir meist bloss ein Bruchstück aus dem kompletten Leben-Erleben, nämlich die Erfahrung von Ereignissen, die über das Nebelmeer des Alltäglichen hinausragen. Das zugehörige Substantiv heisst «Erlebnis». Ob etwas Erfahrenes das Zeug zu einem Erlebnis hat, zeigt sich erst im Nachhinein. Eine mehrtägige Wanderung, ein amüsanter Film, eine Dosis Europapark – keine Garantie, dass solche Geschehnisse als Besonderheiten mit dem Label «Erlebnis» in unserem mentalen Archiv abgelegt werden.

Insofern sind Erlebnisse auch nur bedingt planbar. Dass ein kleiner Lebensausschnitt rückblickend nicht im Nirwana des Vergessens landet, sondern im Gedächtnis wie eine Art von Erzählung mit einer Anfang-Höhepunkt-Ende-Dramaturgie deponiert ist, hängt von vielen Unwägbarkeiten ab. Innere Bereitschaft und äussere Umstände – sie müssen sich glücklich fügen.

Wenn man nun allerdings «Erlebnis» googelt oder Schriftliches aller Art in Augenschein nimmt, prasseln die Erlebnisse auf einen ein: «Erlebniswelt», «Erlebnisraum», «Erlebnis-Wochenende», «Erlebnis-Gastronomie», «Naturerlebnispark», «Erlebnis-Ferien», «Erlebnisbahnhof», «Erlebnis Wohnen», «Erlebnis Schweiz», «Nutzererlebnis» und so weiter und so fort. Es handelt sich dabei um nichts als grossmundige Versprechen, dass beim Kauf eines Sofas, beim Erwerb einer Duschbrause oder beim Besuch eines Landstrichs ein Vergnügen eingepreist ist, das die wahrgenommene Differenz zum hinlänglich Bekannten zu einem Erlebnis macht.

Das mag im einen oder anderen Fall sogar eintreffen. Vielleicht schmecken Spargeln, begleitet von Vivaldis «Frühling» aus seinen «Vier Jahreszeiten», ja tatsächlich gänzlich anders, als wenn diese simpel mit Schinken und Sauce hollandaise serviert werden. Wobei: Ist es nicht nachgerade zynisch, in einer Überflussgesellschaft Essen als «Erlebnis» anzubieten, während es in anderen Weltgegenden an Nahrungsmitteln des täglichen Bedarfs mangelt? Und sollte man Architekten, die in Wohnsiedlungen «Erlebnisräume» vorsehen, nicht vertraglich dazu verpflichten, zwei, drei Tage auch dort zu verbringen?

Erlebnisse haben die Eigenheit, dass sie als punktuelle Ausschnitte aus dem einförmigen Erlebensstrom erfahren werden. Was haben dann in Aussicht gestellte Erlebnisse beim Wohnen (Möbel), Kochen (Kochherd) oder Gehen (Schuhe) zu suchen? Konsumgüter wie Möbel, Kochherde oder Schuhe sind dazu gemacht, dass man sie hoffentlich über Jahre hinweg als möglichst diskrete Dienstleister nutzen kann. Gezwungenermassen können diese freilich dann zum Erlebnis werden, wenn sie zusammenkrachen, explodieren oder im ungünstigsten Moment die Sohlen verlieren.

Alles Werbung, oder was? Nicht nur. Sind wir nicht andauernd damit befasst, uns ein Leben einzurichten, das aussergewöhnlich ist, in dem sich Höhepunkt an Höhepunkt reiht? Da ist kein Platz für Unspektakuläres, sich Wiederholendes. Vielmehr muss alles und jedes zu etwas Grandiosem, einem «Erlebnis» eben, instagramiert werden. Nicht ausgeschlossen jedoch, dass ob dieser grassierenden Erlebnitis das Leben selbst aus dem Blick gerät.

Neulich wurde ich nach der Bestellung von Briefmarken auf «Postshop Online» allen Ernstes um eine Rückmeldung gebeten: «Wie war Ihr Erlebnis im PostShop?» Ich habe meine Bestell-Aktivität auf der Stelle vergessen – wie das mit Schuhebinden, Wasserhahnzudrehen und anderem Klein-Klein des Alltags ganz selbstverständlich der Fall ist. Die groteske Nachfrage aber war ein Erlebnis der besonderen Art – und, es sei eingestanden, Inspirationsquelle für diese Kolumne.

13. Mai 2025 – helen.christen@luzern60plus.ch
 

Zur Person
Helen Christen, geboren 1956, ist in St. Erhard aufgewachsen und wohnt seit vielen Jahren in Luzern. Bis zu ihrer Emeritierung war sie Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü. Das Interesse an der deutschen Sprache in all ihren Facetten und die Lust an der Vermittlung linguistischen Wissens waren nicht nur die Triebfedern in ihrem Berufsleben, sondern prägen auch den neuen Lebensabschnitt.