Es ist «MEIN KIND!»

Von Michael Kuhn

Er ist nicht selten Komödie und Grauen zugleich: Der Elternabend. Wenn Mütter und Väter in Schulhäuser pilgern, um sich über Unterricht, Lehrplan und die Anforderungen an ihre Sprösslinge zu informieren. Im Grunde eine tolle Sache; Eltern treffen sich untereinander und mit den Lehrpersonen, tauschen sich aus. Wären da nicht diese speziellen Mamas und Papas. Diejenigen, die mit ihren Fragen narkotisieren, den Fremdschämreflex aktivieren oder schlicht wütend machen. Richtig wütend.

Wenn etwa die eine besorgte Mutter wissen will, ob sie IHREM KIND Schokolade als Pausenverpflegung mitgeben kann. «Lieber nicht, in Ausnahmen ist das natürlich in Ordnung», so die diplomatische Antwort der Lehrperson – eigentlich der Lehrerin, aber das wird nicht mehr gerne gehört. «Und einen Schokoladen-Getreideriegel?», fragt die Mutter nach. «Generell empfehlen wir keine Schokolade als Znüni», so die Lehrperson. «Und ein zuckerloser Getreideriegel?» Das ist einer der Momente, in denen bei mir nicht gesellschaftskonforme Gewaltgedanken aufkommen. «Ein zuckerfreier Riegel ist natürlich in Ordnung», erklärt die Lehrperson ruhig. «Auch wenn Schokolade drin ist?» Das «Ja» der Lehrperson hat nun einen leicht säuerlichen Unterton. «Wie ist es generell mit Zucker?» Nun, wie ist das wohl? Soll die Lehrperson nun antworten: Hey, gebt Tatjana so viel Zucker, bis sie platzt? Was geht im Kopf solcher Mütter und Väter vor? Wenn überhaupt etwas vor sich geht. «Generell sollten Sie darauf achten, Ihrem Kind möglichst keine zuckerhaltigen Esswaren mitzugeben. Am besten sind Früchte wie Äpfel oder Birnen», gibt sich die Lehrperson weiterhin ruhig. «Aber Getreideriegel sind okay?». «Ja». «Aber die mit Schokoladenüberzug beinhalten doch auch Zucker, nicht?»

Während sich die meisten anderen Eltern die Haare raufen, die Fingerkuppen schon bis auf die Knochen abgekaut haben oder mit den Zähnen knirschen, plätschert der Dialog Mutter-Lehrperson weiter vor sich hin. Bis sich ein Vater zu Wort meldet, der sich – selbstverständlich ohne Bezug auf SEIN KIND zu nehmen, obwohl das natürlich sehr schlau sei – über hochintelligente Kinder und deren Förderung informieren will. In der kurzen, sich über gefühlte zehn Minuten gestreckte Frage hinweg, flicht er ein, was denn SEIN KIND schon könne. Kumuliert würde im Vergleich selbst Leonardo Da Vinci als unbegabter Dorftrottel in Scham zusammensinken. Und wieder informiert die Lehrperson geduldig, nennt Anlaufstellen. Es ist derjenige Augenblick, in dem ich mich an den schönen Cartoon erinnere, in dem Eltern bei einer Lehrperson vorsprechen und diese sagt: «Nein, Ihr Kind ist nicht hochbegabt. Sie beide sind einfach nur unfassbar dumm.»

Es ist diese ausgeprägte Eigenschaft Einzelner, ohne Scham und Reflektion ein Thema so lange bilateral zu diskutieren, bis die Lehrperson den Riegel schiebt. Stets höflich, meist professionell, aber zumindest für die Zuhörenden deutlich. Wegen dieser Mütter und Väter dehnt sich so mancher Elternabend und hinterlässt einen schalen Nachgeschmack. Weil sich Einzelne über alle stellen und das in ihrer Unbedarftheit nicht realisieren oder es ihnen schlicht egal ist. Immerhin geht es um IHR KIND. Und nicht um irgendein Kind. Diese platte Sichtweise legen auch diejenigen Eltern an den Tag, die mit ihrem Offroadpanzer ihren Nachwuchs in die Schule fahren und, angesprochen auf die Massigkeit ihres Fahrzeugs, erläutern, dass IHR KIND nur mit dem stärksten aller Fahrzeuge gut geschützt sei. Ob sie damit alle anderen Kinder gefährden, interessiert nicht. Es sind ja nicht IHRE KINDER.

Das zeigte sich auch am Informationsabend zur Einschulung. Es waren wenige Eltern, die sich in jeder freien Minute auf den Schulrektor stürzten. Um sich und IHR KIND in Position zu bringen, sich aus der Masse der Eltern einen Vorteil zu verschaffen. Welchen, erschliesst sich mir nicht. Denn auch ohne ausgeprägte Empathiefähigkeit war es dem Rektor anzusehen, wie sehr ihn das Umgarnen langweilte.

Elternabende sehen diese Mütter und Väter als ihre Bühne. Hier können sie sich für IHR KIND engagieren, obwohl es in Tat und Wahrheit nur um sie selbst geht. Allem zugrunde liegt Egoismus. Wenn Mann und Frau Kinder hat, erweitert sich der Egoismus entsprechend um die Kinder. So wird der Abend für die Eltern zu Komödie und Grauen zugleich.

Ich freue mich bei den anstehenden Elternabenden bereits auf spannende Fragen wie zum Beispiel «wie schwer darf die Schultasche maximal sein?», «muss auch MEIN KIND Hausaufgaben machen?» und selbstverständlich zu Getreideriegeln – mit und ohne Schokoladenüberzug.

PS: Ich werde an den Elternabenden schweigen. Denn die Lehrpersonen haben bestimmt schon längst registriert, dass meine Kinder höchstbegabt sind. Mindestens. Und wegen den Schokoladenriegeln rufe ich dann noch den Rektor an.
20. September 2017

Zur Person
Michael Kuhn
, geboren 1979 im Kanton Aargau, ist seit Januar 2014 stellvertretender Geschäftsführer Corporate Media bei der Zürcher Kommunikationsagentur Swisscontent. Bis Dezember 2010 war Michael Kuhn Mitglied der Chefredaktion, stv. Ressortleiter und Journalist bei verschiedenen On- und Offline-Publikationen, darunter der «Handelszeitung», der «Luzerner Zeitung» sowie «cashdaily». Danach arbeitete er als Projektleiter und Head of Digital Media für Ringier. Er wohnt mit seiner Partnerin und seinen zwei Kindern in der Stadt Luzern.