Gedanken zu Niklaus von Flüe

Von Judith Stamm

Vom Bauern, Ratsherrn und Familienvater zum Einsiedler, Ratgeber und Friedensstifter. Der Weg des Niklaus von Flüe.

Am 8. Mai 1945 um 13.00 Uhr trat meine Mutter mit mir auf den Balkon unserer Wohnung in Zürich und sagte: „Hörst Du die Glocken läuten? Jetzt ist Friede in der Welt!“ Ich war Primarschülerin, ich hörte das Läuten. Es schien von überall her zu kommen. Heute noch zähle ich mich zu den privilegierten Menschen, die einmal in ihrem Leben glauben konnten: „Jetzt ist Friede in der Welt“.

Von der Primarschule wechselte ich an das Gymnasium der Höheren Töchterschule der Stadt Zürich. An der Kantonsschule waren Mädchen damals noch nicht zugelassen. Eines Tages herrschte grosse Aufregung. Wir waren gebeten worden, Blumensträusse mitzubringen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt sollte Winston Churchill die Rämistrasse hinauf zur Universität fahren. Das war am 19. September 1946, da hielt er seine berühmte Rede. Und wir Gymeler säumten die Rämistrasse, die unten an unserem Schulhaus vorbeiging und bewarfen den berühmten Gast mit Blumen! Der Hintergrund des Ereignisses war uns erklärt worden. Churchill fuhr in einem offenen Wagen und machte das Victoryzeichen. Und in meine Erinnerung brannte sich ein, dass dieser Mensch dafür stand, dass der schreckliche Krieg, der auch in der verschonten Schweiz meine ganze Primarschulzeit begleitet hatte, ein Ende hatte finden können.

Während des Krieges hatte ich immer wieder gehört, Niklaus von Flüe, der von allen Bruder Klaus genannt wurde, habe die Schweiz vor dem Krieg bewahrt. Im Mai 1940 soll das Bild einer schützenden Hand über dem Land am Himmel gesehen worden sein. Eine klare Erinnerung daran habe ich nicht. Denn während der kritischen Zeit war ich während mehreren Wochen bei Verwandten in der Innerschweiz. Meine Eltern blieben in Zürich, ich wurde „evakuiert“.

Zu einer klaren Konfrontation wegen Bruder Klaus kam es dann in meiner Gymnasialklasse, als der Einsiedler vom Ranft von Papst Pius XII. am 15. Mai 1947 heiliggesprochen wurde. Aus welchem Anlass die Stimmung explodierte, weiss ich nicht mehr. Ich sehe mich nur noch allein einer grossen Gruppe meiner Kolleginnen gegenüber, die auf mich einredeten und mir Vorhaltungen machten. „Ihr Katholiken habt uns den Bruder Klaus gestohlen“, hiess der gravierende Vorwurf. Und ich konnte nur einigermassen hilflos antworten, der Papst habe das Recht, jemanden heilig zu sprechen. Bis dahin hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, dass Bruder Klaus auch für die Reformierten durch die Jahrhunderte hindurch eine wichtige Persönlichkeit war.

Jetzt, 2017, begehen wir „600 Jahre Bruder Klaus“. Anfänglich war ich sehr skeptisch. Und jetzt bin ich begeistert und dankbar, dass dieser Mensch der „Landespatron der Schweiz“ sein soll, der über die Grenzen der christlichen Konfessionen hinweg anerkannt ist. Je mehr ich mich in sein Leben vertiefe, umso mehr habe ich den Eindruck, er könnte heute gelebt haben. Das hängt auch damit zusammen, dass viele, die über ihn schreiben, von ihm sprechen, ihn in Bild und Film darstellen, alle Aspekte seines Lebens ausleuchten. Dabei ist für mich weniger wichtig, was belegt ist, was ihm nur zugeschrieben wird, was interpretiert wird. Ich staune einfach nur immer wieder, wie reich und vielfältig sich dieses Leben, das siebzig Jahre dauerte, entwickelte.

Dem Vernehmen nach war Niklaus von Flüe, geboren 1417, ein hablicher Bauer, Ratsherr des Kantons, Richter seiner Gemeinde. Von 1440 bis 1444 habe er als Führer einer Rotte am Alten Zürichkrieg teilgenommen. Nach siegreicher Schlacht habe er sich für das Köpfen und nicht das Verbrennen der Besiegten ausgesprochen. Köpfen bringt den Tod schneller. Man hätte die Unterlegenen ja auch laufen lassen können. Aber das war offenbar nicht die Art der alten Eidgenossen!

Nach dem Krieg habe er die um einiges jüngere Dorothea Wyss geheiratet. Zehn Kinder habe das Paar gehabt. Vielleicht waren es auch mehr, aber zehn haben überlebt. So stelle ich mir das aus heutiger Sicht vor.

„Im Oktober 1467 – das jüngste Kind war noch kein Jahr alt, der älteste Sohn Hans jedoch schon zwanzig, verliess Niklaus mit dem Einverständnis seiner Frau seine Familie, um Einsiedler zu werden“, heisst es in Wikipedia. Eine karge Aussage über jene lange Zeit des sich Entfernens von der Familie, des Ringens um die Entscheidung, die heute als „Bruch in der Biografie“ bezeichnet werden könnte. Und aus den früheren Vorwürfen, Klaus habe seine Familie verlassen, wird heute die Frage, ob seine Familie vielleicht froh gewesen sei, dass er sich mit seinem sonderbaren Verhalten zurückgezogen habe? Es gelang ihm sozusagen eine „zweite Karriere“ als Einsiedler im Ranft, nahe seiner Familie, als Ratgeber für Verantwortungsträger seiner Zeit und als Friedensstifter.

Verschiedene Aspekte lassen mich Bruder Klaus als Menschen der heutigen, modernen, zerrissenen Zeit erleben. Als erstes sein verbürgtes Wirken als Friedensstifter. Denken wir hier nur an das uns allen geläufige Stanser Verkommnis von 1481, das die achtörtige Eidgenossenschaft vor dem Zerfall rettete. Nach Frieden sehnen wir uns alle. Die Nachrichten von den Krisenherden in aller Welt überfluten uns. Entziehen können wir uns dem nicht. Und wie sagte mein Staatsrechtslehrer Werner Kägi an der Universität Zürich in seiner Vorlesung: „Die Freiheit ist unteilbar. Wenn sie irgendwo auf der Welt verletzt wird, ist sie auch für uns verletzt.“ Dasselbe gilt für mich für den Frieden. Wir leben in einer unfriedlichen Welt, auch wenn wir auf unserer Luxusinsel Schweiz vorläufig noch verschont sind. Sich mit einem Menschen beschäftigen zu können, der sein Leben erfolgreich dem Friedensstiften, dem Versöhnen geweiht hatte, ist ein Lichtblick in der Düsternis der internationalen Lage.

Bruder Klaus wirkte in unserem Lande vor der Reformation. Da gab es nur den einen Glauben, in den er tief eintauchte. Deshalb „gehört“ er auch keiner Konfession. Er gehörte nur sich selbst und Gott. Natürlich gab es durch die Jahrhunderte hindurch konfessionelle Vereinnahmungen. Sie werden heute durch eine allseitige Wertschätzung abgelöst. Das betrachte ich als grosse Chance für die ökumenischen Bestrebungen unter den Konfessionen.

Und es eröffnet sich eine weitere Dimension dieses Lebens. Psychologie und Psychiatrie beschäftigen sich mit der Persönlichkeit von Bruder Klaus. Er durchlebte grosse Krisen, benahm sich „merkwürdig“, zog sich zurück, sprach nicht mehr, ertrug vielleicht auch seine Familie nicht mehr. Aber, nachdem es ihm gelungen und zugestanden worden war, nach seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten zu leben, fand er aus den Krisen wieder heraus.

Ich lese davon, dass es uns heute gelingen sollte, psychisch beeinträchtigte Menschen besser in die Gesellschaft zu integrieren. Ich lese davon, dass Kampagnen gestartet werden, um ein besseres Verständnis für  Menschen mit Depressionen und anderen seelischen Störungen zu wecken. In letzter Zeit kommt mir dabei immer Bruder Klaus in den Sinn. Was wissen wir denn heute, wie damals seine seelische Befindlichkeit wirklich war? Er war Offizier, angesehenes Mitglied der Gesellschaft, Familienvater. Er durchlief ganz schwierige Zeiten. Und heute verehren wir ihn als Einsiedler, Ratgeber, Friedensstifter. Er hat es geschafft, seinen Lebensweg und sein Lebensziel wieder zu finden. Auch in der Krisenbewältigung kann er für viele Vorbild sein. Das Geheimnis, wie ihm die Lebenswende gelang, kann sicher in den Worten seines berühmten und bekannten Gebetes, gefunden werden: „Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu Dir! Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich führet zu Dir! Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir, und gib mich ganz zu eigen Dir!“

Aber wir leben heute nicht mehr in einer total religiösen, sondern in einer säkularisierten Welt. Jeder Betroffene muss seinen eigenen Weg suchen und finden. Es gibt jedoch genügend Elemente im vielfältigen Leben des Bruder Klaus, die ihn auch für eine säkularisierte Welt vertraut und vorbildlich erscheinen lassen!

Zum Schluss noch ein ganz verrückter Gedanke. Was würde es bewirken, wenn Niklaus von Flüe als Generalsekretär der UNO wiedergeboren würde?  7. Mai 2017

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.