Meinrad Buholzer. Bild: Joseph Schmidiger

Gerontosexualität

Von Meinrad Buholzer

Mir fällt auf, dass sich im Wohlfühlexpertentum wachsende Besorgnis um die Sexualität von uns Alten ausbreitet. Kommen wir noch zum Zug? Und wenn ja, mit der nötigen Begeisterung? Nutzen wir auch unsere Möglichkeiten? Und was ist nicht in Ordnung mit uns, wenn nicht? Warum die nachlassende Begeisterung? Warum haben wir keine Lust? Machen wir auch alles, um unsere sexuelle Gesundheit zu pflegen? Und so weiter und so fort.

Mir ist es eigentlich ziemlich egal, wie (nicht nur) die Alten ihre Freizeit gestalten und welcher Art ihre Turnübungen sind. Wenn es sie beglückt, mit dem Rollator zur triebgesteuerten Lustbarkeit zu humpeln – bitte schön, kein Problem. Wenn dann aber mehr oder weniger Druck ausgeübt wird, die sexuelle Betätigung quasi zur Pflichtübung wird, an dem unser Wohlbefinden respektive ein Defekt oder Defizit abgelesen wird, und ich den Eindruck habe, dass sich ein neues Business-Modell der Wellness-Industrie Gehör verschafft und die Leistungskampfzone bis ans Grab ausweitet, dann sage ich: Nein! Danke! Keine Lust!

Höchste Zeit, sich wieder mal über Michel Foucaults «Sexualität und Wahrheit» zu beugen. Im 1976 erschienenen ersten der vier Bände – er schrieb von «Probebohrungen» in der Geschichte der Sexualität – räumte er zuerst mit dem Klischee vom angeblichen Tabu auf und bürstet den sexuellen Diskurs gegen den Strich: «Die modernen Gesellschaften zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern dass sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen.» Sex sei in den letzten Jahrhunderten, so die Hypothese, nicht eine Sache der Verurteilung, sondern eine Sache der Verwaltung gewesen. Und er konstatierte einen «Gewinn des Sprechers» in diesem Diskurs: «Wenn der Sex unterdrückt wird, wenn er dem Verbot, der Nichtexistenz und dem Schweigen ausgeliefert ist, so hat schon die einfache Tatsache, vom Sex und seiner Unterdrückung zu sprechen, etwas von einer entschlossenen Überschreitung.» Kurz gesagt: Wenn ich den Sex als Tabu definierte, dann bin ich, indem ich dauernd von ihm rede, ein ganz schön mutiges, rebellisches Kerlchen.

Warum, fragte Foucault, hat die bürgerliche Gesellschaft sich in ihrem «Willen zum Wissen» in den Disziplinen der Pädagogik und Gesundheit (Medizin, Neurologie, Psychiatrie, Psychoanalyse) immer stärker auf die Sexualität fokussiert? Es gehe, meinte er, um den Zugriff der Macht (ein Generalthema in Foucaults Werk) auf den Körper. Das habe dazu geführt, dass der Sex im Laufe der Jahrhunderte wichtiger geworden sei als unsere Seele, wichtiger beinahe als unser Leben. Dieser «Begehrens-Wert» mache uns glauben, «dass wir die Rechte unseres Sexes gegen alle Macht behaupten, während er uns in Wirklichkeit an das Sexualitätsdispositiv kettet». Foucault schrieb gar von Hinterlist und kehrte die alte Erzählung um: Statt, wie behauptet, den Sex mit Schuld zu beladen, rede man uns Schuld ein, «weil wir ihn so lange verkannt haben».

Überraschend für einen linken Denker, dass er sich vor einem «Sozialismus mit sexuellem Antlitz» fürchtete. (Wie war das doch gleich vor ein paar Jahren: Hat nicht die Juso die Integration der Pornographie in den Schulunterricht gefordert?) Foucault warnte vor einer Politisierung der Sexualität. Der Schlusssatz des ersten Bandes von «Sexualität und Wahrheit» bringt es auf den Punkt: «Ironie dieses Dispositivs: es macht uns glauben, dass es um unsere ‹Befreiung› geht.»
Schon klar, Foucaults Thesen sind nicht unbestritten, unbestritten war dieser Denker nie. Aber auch wenn man ihm nicht zustimmt: Ein Wechsel des Standortes, ein Blick aus einer anderen Perspektive auf ein Phänomen erschliesst uns, was zuvor verdeckt war, erhellt und rundet das Bild.

PS: Und noch eine kleine Abschweifung: Dass Sex nicht nur der Lust dienen muss, demonstrierte eine gnostische Sekte. Sie betrieb laut dem Religionshistoriker Ioan Culianu «strapaziöse sexuelle Praktiken», um zu sogenannten «Jenseitserfahrungen» (Visionen) zu kommen. Sex also nicht als Libertinismus, sondern als eine Form von Askese.

15. Januar 2024 – meinrad.buholzer@luzern60plus.ch


Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten (LNN). 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten – der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.