Gesenkte Blicke, gebeugte Nacken

Von Meinrad Buholzer

Eine „Kultur des gesenkten Blicks“ diagnostiziert der Publizist Ulrich Grober – und „eine des gebeugten Nackens“, ergänzt der Soziologe Hartmut Rosa. Weil jeder Gang oder Aufenthalt im Freien oder in öffentlichen Räumen nahezu unweigerlich mit dem Griff zum Smartphone oder iPad und mit dem Studium des Displays verbunden sei. Rosa geht noch weiter und liest die „Rückenleiden der modernen Gesellschaften, die sich medizinisch kaum anders denn als ‚Haltungsschäden‘ interpretieren lassen, als Indiz für eine grundlegende Weltbeziehungsstörung der Subjekte“. Was ist geschehen?

Über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg galt der aufrechte Gang, der offene Blick, die Begegnung auf Augenhöhe als die Haltung des freien Menschen. „Aufgestellt“ zeigten sich das Selbstbewusstsein und der (allerdings ambivalent beurteilte) Stolz.

Mit gesenktem Blick hingegen trat der Sklave vor seinen Herrn. Mit gebeugtem Nacken, also unter dem Joch, bewegten sich unterworfene Völker. Es ist auch die Haltung der Trauer, der Niedergeschlagenheit. Und wo diese Haltung freiwillig erfolgte, ging es um Demut, um Bescheidenheit; beispielsweise vor einer Gottheit. Oft wird der gesenkte Blick auch mit einem Schuldgefühl in Verbindung gebracht.

Aber wenn man auf unseren Strassen, in unseren Bahnhöfen und auf Bushaltestellen mit der „Kultur des gesenkten Blickes“ konfrontiert ist, dann spürt man nichts von Schuldgefühlen (wenigstens nicht bewussten) oder der Präsenz einer Gottheit, nix von Gebet. Es sei denn, man wolle in die Fixierung auf das Display eine Unterwerfung und Anbetung des omnipräsenten Netzes hineininterpretieren.

Was die heutige Unterwerfung von herkömmlichen unterscheidet, ist der Umstand, dass kein Druck von oben auszumachen ist. Kein Eroberer, kein Herrscher, kein Diktator, kein Tyrann, kein General und auch kein Gott zwingt uns, den Blick zu senken, legt uns das Joch in den Nacken. Vielmehr scheint es uns hinunterzuziehen. Sog nach unten statt Gewalt von oben. Verknüpft man diesen Sog mit ebenso aktuellen Formen der Selbstausbeutung, die unter dem positiv gewendeten Ausdruck Selbstoptimierung ihr Unwesen treiben – ob im Sport, im Beruf oder im Privatleben –, dann kann man zur Einsicht kommen, dass wir unsere eigenen Tyrannen geworden sind. Wir beugen uns freiwillig. Dem Zeitgeist, den wir durch unsere bereitwillige Anpassung gleichzeitig mitformen und fördern.

Doch da kommt noch ein anderes Phänomen hinzu. Wie Hartmut Rosa feststellt, senken wir nach dem Verlassen der Wohnung und dem Eintritt in die Sphäre der Öffentlichkeit nicht nur den Blick aufs Smartphone, sondern schieben uns auch die Hörer ins Ohr und isolieren uns von der Realwelt, verschliessen uns, verhindern Begegnung und verunmöglichen damit jene Resonanz, die laut Rosa Voraussetzung für einen gelingenden Weltbezug wäre.

Anders gesagt: Wir bleiben auf uns selbst zurückgeworfen, auf uns selbst beschränkt, keine Spur mehr von aufrechtem Gang und Selbstbewusstsein. Selbstgenügsamkeit nennt man das.

8. Juli 2019

Zur Person Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.

 

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