Und wenn ich keine Enkelkinder habe?

Von Yvonne Volken

Gibt es so etwas wie Grosseltern-Pflichten? Verlangt der Generationenvertrag, dass Grosseltern ihr Leben umstellen, um regelmässig für Enkelinnen und Enkel da zu sein? Noch vor wenigen Jahren haben wir uns die Köpfe heiss diskutiert rund um dieses Thema. Inzwischen hat "das Leben" manche Theorie bestätigt oder auch nicht und es scheint plötzlich eine andere Frage im Raum zu stehen: Was, wenn ich keine Enkelkinder haben werde?

 "Schau mal, mein erstes Grosskind! Kommt im nächsten Frühling zur Welt!" Eine Freundin hält mir ihr Handy hin. Ich identifiziere das Foto auf dem Handybildschirm als Ultraschallaufnahme einer frühen Schwangerschaft. Sechs Wochen alt ist der winzige Embryo und schon Gegenstand von Grossmutter-Stolz. – "Super", sage ich, "gratuliere!" – "Hans und ich wissen schon, wie wir genannt werden wollen, nämlich Grossmaman und Grosspapa, à la française." Was ich davon halte, fragt die Freundin. Selbstverständlich finde ich das super und toll.

Ich bekenne, ich bin Ü60, verheiratet, Mutter eines längst erwachsenen Sohnes und enkellos.  Neuerdings kommt mir dieses "Enkellos" beinahe wie ein Stigma vor, denn alle, fast alle, meiner Bekannten und Freund/innen sind Grosseltern geworden in den vergangenen Jahren. Nur wir, mein Mann und ich, nicht. Natürlich lasse ich mir mein leichtes Unbehagen nicht anmerken, sehe mir auch geduldig und mit meist echter Begeisterung die vielen Smartphone-Filmchen und Fotos über glückliche, schlaue, besonders witzige und wunderschöne Enkelkinder meiner Freundinnen und Freunde an.

Ist es nicht doch irgendwie ein Versagen, ein Makel, in meinem Alter noch ohne Enkel zu sein, frage ich mich neuerdings. Auch Carmen, Ü60, verwitwet, kinderlos, stellt fest, dass sich das "Enkellos" heutzutage irgendwie so anfühlt wie das "Kinderlos" früher. Wir sitzen am See und entdecken Elvira, Ü60, unverheiratet, kinderlos. Siehe da: Elvira hat ein Babytragetuch umgeknüpft und führt ein "Enkelkind" spazieren! Sehr gut sieht das aus - Hipster-Oma mit grauen Löckchen. Elvira findet, dass kein Kind ohne Grosseltern aufwachsen soll und engagiert sich darum als Tages-Grossmutter.

"Grossmutter sein ist viel mehr als Enkel bekochen und Jäckchen stricken", beschwört mich Claudia, zwei Kinder, sechs Enkelkinder. Grossmutter sein sei heutzutage ein Statement, eine gesellschaftliche Verpflichtung. "Sieh dir nur all die Initiativen an, die sich aus unseren Reihen gebildet haben: Omas gegen Rechts, GrossmütterRevolution, Klima-Seniorinnen…". Marcel, Ü70, geschieden, zwei Kinder, enkellos, findet den Grosseltern-, speziell aber den Grossmütterkult, dagegen eigenartig, ja gesellschaftlich heikel. Die mittlere, also die heutige Eltern-Generation, bleibe länger abhängig vom innerfamilialen Beziehungssystem und seinen Mustern, wenn Grosseltern ständig präsent seien, doziert er.

Nun gut, Marcel hat Psychologie und Soziologie studiert. Seine Analyse deckt sich denn auch teilweise mit der eines anderen, spezialisierten Soziologen: Grosselternschaft, insbesondere Grossmutterschaft, sei eine heute positiv besetzte, zugleich aber stark durch Stereotypie geprägte familiale Altersrolle, stellte Altersforscher François Höpflinger schon vor einigen Jahren fest. Schauen wir uns aber einmal bei den Enkel/innen um, und dazu blättere ich jetzt in der "Schweizer Illustrierten".

Da zeigt sich – wenig überraschend – nur Positives, Lobgesang pur: Die Grosseltern, vor allem die Grossmütter, waren das Beste, was den Kindern damals geschehen konnte und sie prägten das Leben ihrer Nachkommen nachhaltig, vererbten etwa Natur- bzw. Bergliebe (Moderatorinnen Nicole Berchtold, Patrizia Laery), Gastgeberqualitäten (TV-Wetterfrau Sandra Boner), Backfreuden (Moderator Sven Epiney), Bescheidenheit (Schriftsteller Lukas Hartmann) und positives Denken (Sängerin Françoise Jordi).

Ich rufe Aline an, eine engagierte Grossmutter aus Düsseldorf. Sie kann mit meinem leichten Nicht-Grossmutter-Blues gar nichts anfangen und klärt mich darüber auf, dass "Grossmutter" heutzutage nicht unbedingt einen Verwandtschaftsgrad bezeichnet, sondern das Alter, die Generation. Auf der Website von "Oma gegen rechts" lese ich später denn auch: "Mit augenfälliger Symbolik erheben ältere Frauen, sogenannte Omas, ihre Stimme zu den gefährlichen Problemen und Fragestellungen der heutigen Zeit.". Bleibt noch die Frage, wie es um Grossväter und Opas bestellt ist, also im politisch-programmatischen Sinn. Kennen auch sie eigene Initiativen, um für eine gerechtere und bessere Welt zugunsten ihrer Enkel und Enkelinnen zu kämpfen: Opas gegen Rechts? Klima-Opas? Grossväter-Revolution?

Darüber grüble ich jetzt nicht weiter nach, sondern vertiefe mich in ein Foto der sieben Mächtigsten weltweit, der G7, Gruppenfoto in Biarritz 2019: Ich zähle vier Opas und eine Oma, wenn wir den Grosselternbegriff alters- bzw. generationengemäss verwenden wollen. Unter den mächtigsten Sieben sind also vier generationelle Grossväter. Die Antwort auf die Frage oben ergibt sich somit von selbst: Opas brauchen keine Extra-Netzwerke, um sich politisch bemerkbar zu machen. Einige wenige unter ihnen bestimmen ja unseren Zeitenlauf, scheinen sich dabei aber kaum gross um die Zukunft ihrer Enkelkinder zu scheren. Braucht es die Klima-Opas etwa doch oder sind sie bei den Klima-Omas mitgemeint? - 11.9.2019

Yvonne.volken@luzern60plus.ch

Zur Person: 
Yvonne Volken, geboren 1956, hat alle zehn Jahre ihr Berufsfeld radikal verändert, arbeitete als Buchhändlerin, als Journalistin, als Projektleiterin bei der Stadt Luzern, als Literaturveranstalterin und gegenwärtig als Klassenassistentin an einer Primarschule. Ihr ursprünglicher Berufswunsch, Missionarin in Indien, ging nicht in Erfüllung. Heute stellt sie fest: Missionieren kann frau eigentlich überall.