
Seit 1907 streckt der «Zeitgeist» auf dem Torbogen des Bahnhofs Luzern seinen Arm in die Höhe. Bild: Wikimedia, James Steakley
Herrenloses Kunstgut auf Abruf
Vor und hinter dem Luzerner Bahnhof stösst «Der Flaneur» auf umstrittene Kunst und Denkmäler, die gefährdet sind – mit oder ohne Durchgangsbahnhof dereinst. Erster Teil. (31. Ausgabe).
Von Karl Bühlmann (Text)
Mit Pauken, Trompeten und Ochsenschwanz-Suppe wurde am 26. November 1896 der «Neue Bahnhof» in Luzern eröffnet. Er ersetzte den hölzernen Vorbau von 1859, erhielt eine Glaskuppe und war um 90 Grad gedreht, weil die Schienen der Linie der «Schweizerischen Centralbahn» aus Basel jetzt nicht mehr durch die Pilatusstrasse führten. Architekt war Hans Wilhelm Auer, der vier Jahre zuvor in Bern den Ostflügel des Bundeshauses, das Parlamentsgebäude, vollendet hatte.
Die Feier in Luzern begann abends um acht Uhr, das Stadt-Orchester spielte den «Einzug der Gäste auf der Wartburg» aus Richard Wagners «Tannhäuser», dann die Ouverture aus C. M. Webers «Freischütz». Nach der Suppe wurden den geladenen Gästen Zuger Rötel mit holländischer Sauce, Rehschlegel garniert mit Gemüse, Toulouser Pastete, grüne Bohnen mit Würstchen und gebratener Welschhahn serviert. Zwischen den Gängen spielte das Orchester die Paraphrase aus der «Waldandacht», die Fantasie aus dem «Vogelhändler», hierauf das Divertimento der «Bauernhochzeit in Savoyen». Zum Finale erklang der «Eisenbahn-Galopp».
Neue Heimat(en) für den «Zeitgeist»
75 Jahre später, am 5. Februar 1971, brannte die 75 Jahre zuvor gefeierte Bauherrlichkeit fast vollständig aus. Die Bahnhofuhr blieb um 9.03 Uhr stehen, die grosse Glaskuppel stürzte um 9.06 Uhr ein. Unsachgemässes Hantieren mit einer Lötlampe soll zum Feuer geführt haben. Endgültig geklärt wurde der grösste Brand eines SBB-Personengebäudes nie.

Die LNN-Titelseite vom 6. Februar 1971. Bild: Privatarchiv
Der stehengebliebene Torbogen passte nicht mehr in den vom Architekten-Trio Ammann, Baumann und Calatrava konzipierten und 1991 eröffneten neuen Bahnhof. Was damit und wohin mit der geflügelten «Zeitgeist»-Figur, die auf dem Bogen steht? Die SBB boten das Relikt mit dem bronzenen Genius der Stadt an. Diese lehnte das Geschenk dankend ab, obwohl die städtische «Kommission für den Erwerb von Kunstwerken» die Annahme empfohlen hatte.
Jean-Christophe Ammann, junger Konservator des Luzerner Kunstmuseums, der die lokale Kulturszene aufwirbelte, hatte schon acht Monate nach dem Bahnhofbrand vorgeschlagen, den «Zeitgeist» auf dem Dach über dem Kunsthaus zu platzieren. Von dort oben herab sollte das plastische Bildwerk auf den kleinen Eingang mit Hintertreppencharakter des Museums hinweisen. Die Idee fand keinen Anklang. Stattdessen avancierte die Figur für eine Zeitlang zum Kunstmuseum-Logo auf Einladungen und Publikationen.
Falsch platziertes Überbleibsel?
Zu guter Letzt zügelten die SBB den Torbogen, mit Ab- und Aufbaukosten von rund drei Millionen Franken, zwanzig Meter weiter auf den Vorplatz. Seither begrüsst er mit «WELCOME – Willkommen in Luzern» auf der glattpolierten, an eine Küchenabdeckung erinnernde Schnittseite die aus dem Bahnhof und den Bussen kommenden Gäste.
Als handicapiertes Denkmal mit nur einer, dem See und Schiffssteg zugewandten historisch-künstlerischen Schauseite, verbirgt er uneigennützig die zwei Abluftkamine der Tiefgarage darunter. Regelmässig, neuerdings zunehmend, melden sich Stimmen aus der Puristen-Fraktion der Architekten- und sonstigen Kunstsachverständigenzunft zu Wort. Sie fordern die Entsorgung des in ihren Augen falsch platzierten und unnützen Überbleibsels: «Sinnloses architektonisches Versatzstück», «Mega-Unfall», «Bausünde», «Recycling eines Bauteils» lauten die Schmähungen. Nach neuestem Befund von jungen und alten Politgrünen soll der Platz ohnehin, ob mit oder ohne Durchgangsbahnhof dereinst, zur autoreinen grünen Begegnungszone mutieren.

Über die Zukunft des Torbogens, der dazugehörigen Kunstwerke und des Bahnhofs Luzern überhaupt scheiden sich die Geister. Bild: Sandra Baumeler
Die Touristen und Touristinnen aus aller Welt kümmert dieses lokale Geplänkel nicht. Für sie ist der Torbogen der Meeting-Point und rangiert nach Löwendenkmal, Wasserturm-Kapellbrücke, Pilatus, Hofkirche und Dampfschiffen als attraktives Anker-Sujet für Luzern. Welches andere Denkmal, öffentliche Kunstwerk, Baufragment oder Bauwerk, das weniger als fünfzig Jahre jung ist, kommt denn so oft in den Sucher und wird in der Cloud abgespeichert? Der KKL-Bau von Jean Nouvel ist die einzige Konkurrenz.
Der kulturelle Zeitgeist weht, wo und wie er kann, doch Richard Kisslings bronzener «Zeitgeist» auf dem Torbogen schaut und zeigt mit ausgestrecktem Arm weiterhin – und wohl noch einige Jährchen – in 23 Metern Höhe über den See in Richtung Gotthardgebäude am Schweizerhofquai. Dort befand sich der Verwaltungssitz der Gotthardbahngesellschaft, die Luzern für den internationalen Tourismus erschloss. Wer die vom Arm der Kissling-Figur imaginierte Linie auf einer Landkarte weiterzieht oder sich einfachheitshalber ins Global Positioning System einloggt, landet vor dem Zürcher Hauptbahnhof – beim Denkmal für den Schweizer Eisenbahnpionier Alfred Escher.
Welche Prophetie: Luzerns «Zeitgeist» zeigt genau die Richtung der Untertunnelung des Seebeckens für die Zürich-Linie im Projekt Luzerner Durchgangsbahnhof an!
Welche Ironie: Der ausgestreckte Arm des Genius erinnert noch im nächsten annus iubilaeus, 2050 also, die Nachwelt daran, dass in diese Richtung ein Tunnel unter dem See geplant war!
Was gilt: Prophetie oder Ironie? Woran glauben Leserinnen und Leser dieser Zeilen? Antworten werden gerne entgegengenommen und sind im Voraus verdankt. E-Mail an karl.buehlmann@luzern60plus.ch
Der Künstler liess nicht locker
Wo anders als am heutigen Standort ist Kisslings seherisch-vorausahnende Figur besser positioniert? Der Luzerner Genius auf der geflügelten Radachse, flankiert von zwei erschöpften Bahn- oder Tunnelarbeitern, Hammer und Brecheisen in den Händen, ist, wie das Torbogen-Relikt, ein Recycling-Produkt aus Kisslings Bildhauerwerkstatt. 1877 war sein Jüngling auf dem Flügelrad erstmals als «Génie du Progrés» im Salon Officiel in Paris zu sehen, wenige Jahre später an der Landesausstellung in Zürich. 1886 machte Kissling für einen Wettbewerb der Gotthardbahn aus dem Jungspund einen erwachsenen Genius der Gotthardbahn und setzte ihn auf einen Sockel. Das geplante Denkmal in Luzern wurde nicht ausgeführt.
Ned lugg loh gwönnt! Kissling gewinnt Jahre später mit dem gleichen Sujet beim Wettbewerb für den Figurenschmuck am neuen Bahnhof Luzern. Ab 1907 thront der «Zeitgeist» auf dem Torbogen.
Die Bodenkunst – schon mal bemerkt?
Selten beachtet sind die etwas tiefer stehenden Seitengruppen auf dem Torbogen, die eine Frau und einen Knaben zeigen. Links halten die Figuren Weinkrug und Weinbecher in den Händen, rechts Früchte und Ähren; symbolisiert sind damit die Themen Gastfreundschaft und Fruchtbarkeit. Ähnlich ergeht es den in neuerer Zeit gestalteten 19 Bodenplatten, die auf beiden Seiten des Torbogens auf gelegentliche Beachtung hoffen. Täglich werden sie von Tausenden eilenden, trippelnden, tappenden und schlurfenden Schuhen malträtiert. Weil die Platten nicht stöhnen und nur gelegentlich stören, werden sie selten wahrgenommen.
Die Ausschreibung von 1989 der städtischen Baudirektion für die künstlerische Gestaltung des Platzes, konkret von 50 der 200 Bodenplatten von 183 mal 183 Zentimeter, war gut gemeint, das Resultat enttäuschend. Juriert wurden 84 Eingaben von 60 Kunstschaffen, ausgewählt 28 Beiträge. Auf viel weniger, nur 19 bearbeitete Bodenplatten, stösst der Flaneur heute bei der angestrengten Suche. Auch fällt ihm keine zweite Person auf, die auf die Bodenkunst schaut. Hat Kunst, die «öffentlich» sein soll, aber nicht auf sich aufmerksam macht, überhaupt Sinn? Die Stadt meint ja, sie will die Bodenplatten erhalten, sollte der Platz dereinst für den Bau des Durchgangbahnhofs zur Baustelle umgepflügt werden.
Dürfen die millionenfach getretenen Bodenplatten sich während der Bauzeit in einem Kunstdepot erholen? Warum nicht ein neuer Einsatzort, beispielsweise im Friedental oder in der bald fertiggestellten Flaniermeile? Der Erhalt des Torbogens scheint dem Stadtrat, gemäss Verlautbarungen aus jüngster Zeit, wichtig zu sein. Die teuren Kosten für die Versetzung will er sich ersparen – wohl auch eine Unterschriftensammlung mit anschliessender Abstimmung zum Antrag «Bleiberecht für den Torbogen vor dem Bahnhof». Allerdings: Die Zeiten sind schnelllebig, die Meinungen auch.

«Der Pöstler» musste einiges über sich ergehen lassen. Immerhin steht die Skulptur von Rolf Brem noch immer im öffentlich Raum, heute vor der Uni. Bild (undatiert, vermutlich 1985/1986): Mondo Annoni, Staatsarchiv Kanton Luzern
Das Thema «Versetzung» treibt den Flaneur stante pede um die Ecke Bahnhof-KKL zur Universität, genauer sagt: zur Frohburgstrasse 3. Hier steht das meistgefährdete öffentliche Kunstwerk in der Stadt – offenbar herrenloses Gut. Kunsträuber hätten leichtes Spiel; ein Camion mit Hebebühne oder kleinem Kran genügten für die Entführung der Bronzefigur «Der Pöstler» von Rolf Brem. Der Briefträger steht neben dem Velo, dessen zwei Gepäckträger sind voll beladen, er schaut auf die Briefpost in der Hand. Die Figur im Kaputt, mit Mütze und Schnauz, sieht wie ein junger General Guisan aus.
Der populäre Bildhauer Brem ist 2014 gestorben, nächsten Sommer wird ihm zum hundertsten Geburtstag in einer Ausstellung in der Kornschütte gedacht. Ob sich bis dann das Rätsel um das Eigentumsrecht und die Obhutspflicht des lebensgrossen Pöstlers gelöst hat?
Seit Mitte der Achtzigerjahre steht der Postmann, ziemlich allein gelassen, auf seinem Platz. Das war mal anderes, am Standort der heutigen Universität befand sich das Postzentrum Frohburg, allerdings nur für rund zwei Jahrzehnte. Es war die postalische Drehscheibe der Zentralschweiz, hier wurde sortiert, verteilt, spediert, und ab ging die Post in die Kantone rund um den Vierwaldstättersee.
Der gewitzte Oberpöstler Stadler
Der initiative Kreispostdirektor Alphons Stadler sel. wollte für «sein» Postzentrum eine Brem-Skulptur bestellen. Die auslobende Stadt beauftragte drei andere lokale Künstler mit dem Auftrag zur künstlerischen Ausgestaltung. Der initiative Postdirektor liess sich nicht bremsen und bestellte gleichwohl bei Brem den Pöstler in Bronze. Das Geld für den Ankauf brachte er bei den am Bau beteiligten Firmen zusammen.
Der Stadtarchitekt, über den eigenmächtigen Deal wenig erfreut, plante die Skulptur auf den Dachgarten zu verbannen. Der gewitzte Oberpöstler Stadler recherchierte im Grundbuchamt und stiess auf eine kleine Parzelle vor dem Bau, die Niemandsland war oder der Post gehörte. Hier konnte ihm niemand dreinreden und dorthin kam «Der Pöstler» schliesslich zu stehen.
Als das Postzentrum Frohburg verschwand, weil inzwischen das nationale Brief- und Paketzentrum Härkingen mit der grossen Sortiermaschinerie den Betrieb aufgenommen hatte, kam der Pöstler 2008 in ein Depot in Root. Der Baukomplex wurde samt noch vorhandenem Inventar für 42 Millionen Franken dem Kanton verkauft. Im Vertrag stand nichts über die Kunstobjekte in und vor der Immobilie. Diese wurde in einem vierjährigen Bauprozess mit Kosten von 151 Millionen Franken zur heutigen Universität transformiert. An der Ecke zum Bahnhof verblieb nur noch die Poststelle.
Als Brems Pöstler aus dem Exil zurückkehrte, drehten die wenig erfreuten Architekten der Uni die Figur um 90 Grad und stellten sie parallel zu Bau und Strasse auf. Das wiederum gefiel dem Kreispostdirektor ganz und gar nicht. Er liess die Figur während der Mittagspause durch einen Traxfahrer drehen und original aufstellen, trotz architekturseits angedrohter Rückführung. Inzwischen ist auch die Poststelle Frohburg nur noch Geschichte. Die Figur, falls inzwischen nicht entführt, steht immer noch dort. Ihre Geschichte geht weiter.
Affaire à suivre
Der Post gehört «Der Pöstler» nicht mehr. Eine kleine Version der Skulptur, die lange Zeit in der Luzerner Hauptpost vor dem Direktionszimmer und später im Aufenthaltsraum «Postino» im Dachgeschoss stand, wurde seinerzeit dem Museum für Kommunikation in Bern übergeben. Sie ist dort nicht präsent, sie atmet gesiebte Luft in einem Lager in Schwarzenburg.
Dem Kanton Luzern gehört «Der Pöstler» auch nicht. Auf Anfrage erhält der Flaneur die Antwort: «Gemäss Datenbank ist die Skulptur nicht im Besitz des Kantons Luzern. Eventuell kann die Post oder die Universität weiterhelfen.» Der Universität gehört die Figur ebenfalls nicht. Antwort aus dem Universitätsmanagement» auf des Flaneurs Anfrage: «Nach unserer Information ist die Universität Luzern nicht Eigentümerin der Skulptur ‹Der Pöstler›. Wir empfehlen sich direkt an die Kunstsammlung der Stadt Luzern zu wenden, da die Skulptur sehr wahrscheinlich in deren Besitz ist.»
Auf eine Antwort von der Kunstsammlung der Stadt Luzern auf die gleiche Frage wartet der Flaneur seit Anfang Dezember. Möglicherweise kann er nächstes Mal finalis berichten, ob das Werk von Brem tatsächlich herrenloses Kunstgut ist. Mit Bestimmtheit wird im Flaneur 32 die Geschichte über ein anderes Kunstwerk im/am Bahnhof stehen, das so geschützt und beschützt ist, dass eine 30-jährige Schutzfrist für Auskünfte besteht, die dann Anfang 2026 ablaufen sollte …
PS: Für hintergründige Informationen zu Post und «Der Pöstler» dankt «Der Flaneur»: Louis Brem, Ferdinand Jud, Hans Arnold, Werner Steinmann.
16. Dezember 2025 – karl.buehlmann@luzern60plus.ch