Margaretha Reichlin: „Die Politik hat mein Leben geprägt“

Text: Hans Beat Achermann             Bild: Joseph Schmidiger

„Schon der Vater marschierte am 1. Mai zuvorderst“, erinnert sich SP-Frau Margaretha Reichlin. Und jeweils am Sonntag begleitete die Tochter den Vater ins Volkshaus, wo die roten Sozis diskutierten und politisierten und die Kleine roten Sirup trinken durfte. Der Sinn für Gerechtigkeit, das Engagement für eine bessere und gerechtere Gesellschaft gingen ihr also schon früh ins Blut über, ebenso wie das Rebellische. Die ersten acht Jahre verbrachte Margaretha mit der Familie am Grenzweg, die erste Klasse besuchte sie im St-Karli-Schulhaus bei Fräulein Koch. Dann zog die Familie an die Bundesstrasse, der 14 Jahre ältere Bruder war da schon ausgezogen. Nach dem frühen Tod des Vaters, der als Mechanikermeister bei der Viscose gearbeitet hatte, besserte die Mutter die Rente mit Arbeiten als Änderungsschneiderin auf.

Weissbrot als Festessen
Als die Mutter das Mädchen mit 16 nach Frankreich in ein Institut schicken wollte, um Französisch zu lernen und reichen Töchtern zu dienen, da weigerte sie sich. „Ich wollte diesen Reichen nicht den Putzli machen.“ Auf eigene Faust suchte sie sich eine Lehrstelle, und da half auch der Zufall mit: In der Quartierapotheke an der Moostrasse war ein Inserat angeschlagen, auf dem eine „Apothekenhelferin-Lehrtochter“ gesucht wurde. Doch es stellte sich heraus, dass die Lehrstelle in Emmenbrücke am Sonnenplatz war. Also nahm Margaretha kurzerhand den Bus, ging sich vorstellen, bekam die Stelle, ohne die Zeugnisse zeigen zu müssen. 90 Franken im ersten Lehrjahr entlasteten das Familienbudget. „Wir waren nicht auf Rosen gebettet“, blickt Margaretha zurück: „Weissbrot war ein Festessen.“ Von  Frau Adulti, einer Nachbarin am Grenzweg, hat sie es  jeweils als Belohnung bekommen, wenn sie ihr Kommissionen gemacht hat. Auf der  selbstgebackenen Brotschnitte lag noch eine Scheibe Citterio-Salami.

Sozialarbeit mit Süchtigen
Der Lehrmeister, Apotheker Xaver Bühlmann, wurde zum väterlichen Patron, die Lehrzeit am Sonnenplatz hat sie als einen Platz an der Sonne in Erinnerung. „Wir haben noch Zäpfli gegossen, Pillen gedreht und Teesorten gemischt.“  Obwohl ihr der Beruf gefiel, setzte sie sich neue Ziele: Nach einem Sprachaufenthalt in England meldete sie sich an der Tagesschule für Sozialarbeit an – und wurde abgelehnt. „Ich will das und ich kann das“, war die Reaktion. An der Abendschule für Sozialarbeit wurde sie aufgenommen, arbeitete nach dem Abschluss viele Jahre mit Alkohol-und Medikamentensüchtigen: „Das hat mir gefallen, diese Menschen waren im Grunde gueti Cheibe, die aus der Bahn geworfen wurden.“  Später  bildete sie sich weiter zur Paar- und Familientherapeutin und zur Mediatorin. „Ich habe immer Glück gehabt, ich musste nie eine Stelle suchen.“ Auch der Einstieg in die Politik erfolgte zufällig: Eine Freundin hatte sie angefragt, für die SP in die Kindergartenkommission zu gehen. Und so begann die politische Karriere der Margaretha Reichlin. Sie kandidierte für den Grossen Stadtrat, rutschte nach, als Werner Schnieper in die Exekutive gewählt wurde, und als Höhepunkt ihrer Politkarriere 1995/96 präsidierte sie das Gremium.

Weniger Leserbriefe als früher
„Ich habe viel gelernt in der Politik: genau lesen, analysieren und Reden halten, mit Leuten umzugehen und zu vermitteln.“ Alle diese Erfahrungen und ihre Persönlichkeit prädestinierten sie dann für das Amt als Friedensrichterin: 16 Jahre lang vermittelte sie, versuchte Streithähne zu überzeugen, sich einvernehmlich zu einigen und nicht vor Gericht zu gehen. „Das Amt hat mir ausserordentlich gefallen.“  Jetzt, dreieinhalb Jahre nach der Pensionierung, bilanziert Margaretha Reichlin: „Die Politik hat mein Leben geprägt.“  Nicht nur das Denken, auch der Freundes- und Bekanntenkreis tragen bei zum „linken Heimat- und Familiengefühl“.  Hat das Alter milder gemacht?  Margaretha lacht: „Ja, ich schreibe weniger Leserbriefe.“ Dafür haben Sport und Musik und die Beziehung einen grösseren Platz in ihrem Leben bekommen: Mit ihrem Lebenspartner unternimmt sie regelmässig grosse Velotouren in halb Europa, mit 48 hat sie Klarinette gelernt, sie nimmt immer noch Stunden und spielt in einem Ensemble der Musikschule. Auf ihre schlimmsten Erfahrungen in ihrem Leben angesprochen nennt sie weder berufliche noch politische Ereignisse, sondern einen fatalen Sturz in Arth mit dem Velo. 1990 war es, als sie mit einem Schädel-Hirn-Trauma ohne Erinnerung an den Unfall im Spital aufwachte und neun Monate Therapie brauchte, bis sie wieder „funktionierte“. Der starke Wille, Hartnäckigkeit und Zuversicht trugen zur geglückten Rehabilitation bei.

Ein neues Engagement
„Die Pensionierung ist ein grosses Geschenk“, fasst Margaretha Reichlin die neue Freiheit der letzten Jahre zusammen. Der Übergang fiel ihr nicht schwer, hat sie doch nie mehr als in einem 80 Prozent Pensum gearbeitet und so für  sich einen guten Ausgleich zur anspruchsvollen Arbeit gefunden. Doch nach einem Jahr ohne Engagements hat sie noch einmal gesagt „Ich will das“, als ein Sitz in der Einbürgerungskommission frei wurde. Darüber hinaus will sie von Tag zu Tag geniessen, Freunde bekochen, jassen, langlaufen, velofahren.  Einen Traum hat sie noch: „Mit dem Fahrrad Kuba entdecken.“  Zweifellos schafft sie auch das.
27. Januar 2016