GLOSSE

Jahrweiser mit Pausenmilch

Von Hans Beat Achermann

Jedes Jahr Ende November beschenkt uns der Tages-Anzeiger mit einer besonderen Beilage: einem gefalteten Kalender, aufgeklappt 39x28 cm gross, auf geschätztem 180-Gramm-Papier oder Halbkarton, ich bin da nicht so bewandert. Vorne die Monate Januar bis Juli, auf der Rückseite Juli bis Dezember. Oben in der Mitte ein kleines Loch, das dazu dient, den Kalender irgendwo in der Küche mit einer Reisszwecke aufzuhängen und ihn dann in der Jahresmitte zu wenden. Dort, wo nicht gerade Feiertage eingetragen sind, stehen Vornamen, an deren Datum der Namenstag gefeiert wird oder wohl eher in vergangenen Zeiten gefeiert wurde. Wer kennt heutzutage noch seinen Namenstag? Nur schon darum lohnt sich die Lektüre dieser wertvollen Beilage. Wer weiss schon, dass es einen heiligen Polykarp gibt, einen Kurnus oder einen Mamertus, eine heilige Prudentiana, eine Afra und eine Euphrosina. Eine Corona habe ich nicht gefunden, aber die gehört inzwischen wohl nicht mehr in die Schar der Heiligen.

Jedes Jahr denke ich: so was von veraltet – wie das mir bis anhin unbekannte Wort Jahrweiser, das früher den Kalender bezeichnete. Ich habe heutzutage doch meinen Jahrweiser in der Hosentasche oder im Jackett oder im Überzieher. Auch so ein heute wenig gebrauchtes Wort, das früher einen leichten Herrenmantel bezeichnete. Und doch: Irgendwie, so ab Mitte November warte ich auf diesen Jahrweiser und ich wäre satt enttäuscht, wenn er mal nicht mehr erscheinen würde. Denn: Wo gibt es das noch, etwas mit einem Blick zu erfassen oder, um genau zu sein, mit zwei. Die Digitalisierung führt auch zur Fragmentierung. Wer kennt es nicht, das mühsame Zusammenklauben von Einzelteilen, um dann wieder das Ganze im Blick zu haben. 

Neben den Heiligen aber hat es noch Einträge zu diesem und jenem. Ich erfahre, wann die Giardina-Messe stattfindet oder die Expovina Primavera, wann Stars in Tower sind und wann der Greifenseelauf ist.  Interessiert mich alles eher weniger, wobei die Expovina noch in Reich- bzw. Trinkweite liegt. Fürs Knabenschiessen bin ich zu alt und an der Street Parade bekomme ich Platzangst. Den Silvesterlauf absolviere ich lieber tatsächlich am Silvester und nicht schon am 12. Dezember und auch nicht durch Züri, sondern lieber gemächlich der Maggia entlang. Aber dann ist da noch ein ganz besonderer Eintrag: Am 4. November ist der Tag der Pausenmilch. Die Pausenmilch, das ist doch genauso old fashion wie der Jahresweiser oder der Überzieher. Ich erinnere mich, wie vor sechzig Jahren beim Einwurf eines 50-Rappenstücks in einen Milch-Lait-Latte-Automaten im Pausenhof des Untergymnasiums eine Halblitertüte Tetrapak hinunterrumpelte, die müde Jungmänner wieder munter machen sollte. Das Rätsel mit der Pausenmilch löst sich ganz unten am Rand des Jahreskalenders, und zwar auf beiden Seiten: Da liegt eine Kuh im Gras (eine heilige Kuh?), daneben der Schriftzug «swissmilk green» und die erklärende Doppelzeile: Der Produktionsstandard für Schweizer Milch. Muh und Aha!

Ich wünsche allen 365 coronafreie Tage, und vergessen Sie den 4. November nicht! Herzlich, Ihr Jahrweiser.