KONTROVERS

"Dem Suizid das Bedrohliche nehmen"

Von Beat Bühlmann

Der Luzerner Psychotherapeut Josef Giger-Bütler plädiert in seinem neuen Buch für den Altersfreitod - ohne Einschränkungen. Ist das wirklich erstrebenswert?

Warum wird depressiven und älteren Menschen, die an keiner tödlichen Krankheit leiden, der Weg zum begleiteten Suizid verbaut? Um diese Frage kreist das neue Buch von Josef Giger-Bütler: Wenn Menschen sterben wollen. Mehr Verständnis für einen selbstbestimmten Weg aus dem Leben.* Der Autor, seit 40 Jahren als Psychotherapeut tätig, widerspricht nachdrücklich der landläufigen Auffassung, dass Depressive und Alte nicht in der Lage seien, einen verantwortungsvollen Entscheid für den Suizid oder den begleiteten Suizid zu treffen. "Den einen unterstellt man eine Krankheit und den anderen altersbedingte Unzurechnungsfähigkeit, mit anderen Worten, debil zu sein oder bestenfalls senil."

Eine Entmündigung

Aus eigener Anschauung weiss der Luzerner Psychotherapeut, dass man sie mit dieser Haltung dazu zwingt, "den kalten, brutalen und Menschen verachtenden Weg zu gehen". Das heisst: vor einen Zug oder von der Brücke zu springen, sich zu vergiften, zu erschiessen oder sich zu erhängen. Wie alle anderen Menschen verdienten auch depressive und lebensmüde alte Personen als mündige und eigenverantwortliche Menschen behandelt zu werden, lautet sein Credo. Alles andere zeuge nicht nur von Respektlosigkeit, sondern komme einer Demütigung und Entmündigung gleich. Würdevolles Sterben bei suizidalen Menschen verlange nichts Unmögliches, sondern heisse, zum Suizid stehen zu dürfen, ohne sich bis zuletzt verteidigen und rechtfertigen zu müssen. Es bedeute auch, so Josef Giger, "nicht einsam zu sterben wie beim kalten Suizid und es nicht heimlich wie ein Verbrecher, sondern es mit dem Wissen oder vielleicht sogar mit der Zustimmung der Angehörigen tun zu dürfen".

Nach seiner Auffassung würde eine völlige Liberalisierung keine Schleusen zum Missbrauch öffnen. Er selber sei ohnehin kein Verfechter des Suizids, kein Kämpfer für den Freitod, schreibt Giger im einleitenden Kapitel zu seinem Buch. Seine Mission zielt darauf ab, den (begleiteten) Suizid auch für depressive und ältere Menschen als "legitime und akzeptierte Form des Sterbens" zu ermöglichen - und ihn nicht als Reaktion eines verwirrten und kranken Menschen abzutun. Weil der suizidale Mensch in seinem sozialen Umfeld mit wenig Verständnis rechnen könne, sei er gezwungen, "diesen Schritt wie ein Dieb heimlich zu planen und durchzuführen, wie ein Krimineller, der einen Mord plant". Das sei unmenschlich und eines gelebten Lebens nicht würdig, schreibt Giger, "ein dunkler Weg in völliger Einsamkeit". Deshalb, so sein Plädoyer, müsse auch dem lebensmüden Menschen das Recht auf den begleiteten Suizid gewährt werden - ohne Einschränkung und zusätzliche Auflagen. "Auch alte Menschen, die nicht mehr leben wollen, sollten ungeachtet ihrer Gründe eine anerkannte und legitime Form des Sterbens wählen dürfen, um ihre Würde wahren zu können", fordert Josef Giger-Bütler.

Suizid als Normalität?

Um ihre Würde wahren zu können? Gewiss ist es nötig, das Thema Suizid und begleiteter Suizid nicht länger mit einem Tabu zu belegen - auch nicht in der Kirche oder in Pflegeinstitutionen. Mehr Respekt statt Ausgrenzung, mehr Anteilnahme statt Verurteilung wäre dringend geboten; von "Selbstmord" zu sprechen ist nicht angebracht. Und ganz grundsätzlich: Wir haben das Recht, autonom über unser eigenes Leben zu befinden. Sterbeorganisationen wie Exit haben durchaus ihre Berechtigung. (Auch wenn es befremdet, dass die Organisation, die derzeit über 114 000 Mitglieder und über eine Warteliste verfügt, in ganzseitigen Zeitungsinseraten für eine Mitgliedschaft wirbt, als ob sie auch noch vom Wirbel um den 104-jährigen Australier, der zum Sterben in die Schweiz kam, profitieren möchte.)

Soll denn der begleitete Suizid zur Normalität werden? "Sich lieber das Leben zu nehmen, als sich in einem Pflegeheim zu begeben, kann als plausible Begründung einer Selbsttötung nicht überzeugen", hat die Nationalkommission Justitia et Pax kritisch angemerkt. Wenn die Situation im Pflegeheim derart schlimm sein sollte, dass Menschen die Selbsttötung vorzögen, müsse das Leben im Pflegeheim verbessert werden. So ist es. Doch genau dieser gesellschaftliche Bezug fehlt im Buch von Josef Giger. Zwar räumt er auf wenigen Zeilen ein, dass das Alter und die "Überalterung unserer Gesellschaft" zumeist als Kostenfaktor gesehen werde und für alte Menschen heutzutage oft ein rauher Wind wehe. "Sie spüren, dass sie Probleme verursachen und manche sagen sich, dass es vielleicht besser wäre, wenn sie verschwinden würden."

Aber für ihn ist diese soziale Altersdiskriminierung kein Anlass, um zuerst nach den gesellschaftlichen Gründen für den Todeswunsch zu fragen. Auch das persönliche Umfeld des suizidalen Menschen zählt da nicht mehr viel. "Er muss den Schalter umlegen können und dabei die Kinder und Angehörigen ganz aussen vor lassen, sonst schafft er es nicht, den letzten Gang zu gehen", schreibt Josef Giger. Sind das Verhältnisse, die wir uns selber für ein Leben und Sterben in Würde wünschen?

Sterbemittel ohne ärztliche Diagnose?

Ist der Altersfreitod, der begleitete Suizid ohne jede Einschränkung,  tatsächlich die angemessene Antwort auf die Herausforderungen des demografischen Wandels? Oder wäre nicht zuerst zu fragen, warum alte Menschen verzweifeln und nicht mehr leben wollen? Und ist ein Leben in Würde nur möglich, wenn wir autonom und ohne fremde Hilfe existieren? Wenn alte Menschen nicht länger leben wollen, hat das oft auch mit Einsamkeit, mit der fehlenden sozialen Teilhabe oder mit der unzureichenden psychischen Betreuung zu tun. Zentrale Erkenntnis des Nationalen Forschungsprogramms zum Lebensende (NFP 67) war, dass die individuellen Bedürfnisse der Sterbenden in Spitälern und Pflegeheimen oft zu wenig berücksichtigt werden. Und das wird nicht zwingend besser werden, denn die Herausforderungen der alternden Gesellschaft werden nicht kleiner: Hochaltrigkeit, Demenz, Pflegenotstand, überforderte Angehörige, Gesundheitskosten sind nur ein paar Stichworte dazu.

Sterbehilfeorganisationen und der assistierte Suizid mögen für Schlagzeilen attraktiver sein, doch die Lebensqualität im Alter bemisst sich nach anderen Kriterien. So fehlen die finanzielle Mittel für eine angemessene geriatrische, alterspsychatrische oder therapeutische Behandlung der älteren Bevölkerung. Nach wie vor sind die Angebote für Palliative Care ungenügend, ist die Unterstützung der Angehörigen bescheiden und die Umsetzung der nationalen Demenzstrategie im Alltag kaum zu spüren.

Am nächsten Samstag, 2. Juni, diskutiert die Exit-Generalversammlung, ob das Sterbemittel Natrium-Pentobarbital (NaP) betagten Menschen ab 80 Jahren künftig ohne Diagnose und rezeptfrei abgegeben werden soll, der begleitete Suizid im Alter also sozusagen auf dem Tablett serviert werden könnte. Ein Entscheid ist noch nicht zu erwarten, die vor einem Jahr eingesetzte Kommission ist skeptisch und will weitere Abklärungen vornehmen.  - 30.5.2018

* Josef Giger-Bütler: Wenn Menschen sterben wollen. Mehr Verständnis für einen selbstbestimmten Weg aus dem Leben. 223 Seiten, Fr. 28.90. Klett-Cotta, Stuttgart 2018.

beat.buehlmann@luzern60plus.ch