Der Stanser Angelo Maisano stammt aus Acquacalda in Kalabrien.

Beitrag der Serie: «Migration und Flüchtlinge»

Kalabrische Geschichten, die der Nonno in Stans erzählt

Angelo Maisano lebt seit vielen Jahren in Stans, wo er bis zur Pensionierung am Gymnasium unterrichtete. Dennoch fühlt er sich als Nomade oder als moderner Odysseus. Forumsmitglied Walter Steffen sprach mit ihm über sein Leben als Emigrant, angefangen bei den Erinnerungen an die Kindheit in Kalabrien. Für die kalabrischen Geschichten des Grossvaters interessiere sich in der Corona-Zeit sogar sein achtjähriger Enkel,meint Angelo Maisano.

Jeden Tag erzähle ich meinem Grosskind als „Gutenachtgeschichte“ von einem Brauch, einer Episode, einem Rezept, einem Märchen, einem Menschen oder von meiner Kindheit in meinem Dorf.

Aber dir, lieber Walter, kann ich es in einem anderen Ton erzählen, weil ich keine Angst haben muss, dich zu "traumatisieren". Also lass uns in die Vergangenheit reisen!

Ich bin 1947 in einem winzigen Dörfchen geboren. Es heisst Acquacalda und liegt im Aspromonte, in der Provinz Reggio Calabria. Du wirst es auf der Karte kaum finden – es ist heute fast ausgestorben. Die Nachkriegszeit war bei uns geprägt von bitterer Armut, Ignoranz, Naivität, Arbeitslosigkeit und Hunger. Aber es fehlte auch nicht an Solidarität, Zusammengehörigkeitsgefühl, Stolz und einem grossen Willen zum Überleben. Das ist charakteristisch für uns Kalabresen. Ich verschweige nicht die Bösartigkeit, die Korruption, den Neid, die Macht der Reichen über die Armen, die Omerta’, die 'Ndrangheta, die seit Jahrhunderten jeden Entwicklungsversuch unterdrückt. Hier müsste man dem Ursprung des Übels nachgehen, doch das ist ein anderer Diskurs.

Väterlicherseits war unsere Familie etwas Besonderes: Wir stammten aus Africo Vecchio, einem alten Dorf im Herzen des " Aspromonte grecanico“.

Meine Grosseltern sprachen „grekanisch“, das sich aus dem archaischen Griechisch der griechischen Kolonien des 6. Jahrhunderts v. Chr. ableitete.

Heute lebt in Africo Vecchio niemand mehr und die alte Kirche diente bis vor einigen Jahren als Schutz für Schafe, Ziegen und Kühe der Hirten aus den nahe gelegenen Bergen. Schon in frühester Kindheit wurde mir klar, dass die "grekanischen" Wurzeln keine gute "Visitenkarte" waren.

Ich erzähle dir diese Details, weil sie dazu beigetragen haben, dass ich mich immer als Weitgereister, als „Nomade“ fühle. Mir gefällt das Wort „Nomade“, weil es viele Aspekte meines Lebens widerspiegelt. Wir waren in Kalabrien schon die „Africoti“, was alles andere als ein Kompliment war.

Heute, nach Jahren des Lesens, Nachdenkens und Meditierens, stelle ich fest, dass in vielen Kalabresen ein moderner "Odysseus" überlebt. Du erlaubst mir den Vergleich: Wir sind weggegangen und fühle Nostalgie nach etwas, das wir vermissen, das wir verlassen haben und nach etwas, das uns reizt zurückzukehren. Die Etymologie der "Nostalgia" (Heimweh, auf Griechisch: νόστος, Rückkehr und άλγος, Schmerz) erinnert mich an Odysseus' Reise. Aber wir sind uns bewusst, dass wir das Unmögliche wünschen. Es ist nichts mehr wie zuvor und wie Odysseus sucht jeder nach etwas, das nicht mehr da ist! Du weisst, was die Mythologie über Odysseus sagt, nachdem er nach Ithaka zurückgekehrt ist. Und wir, die wir es wagen uns "Homers Enkelkinder" zu nennen, täuschen uns nicht: Ende der 1950erJahre in der Schweiz wiederholte mein Vater oft: "Wir werden etwas Geld beiseitelegen und dann nach Kalabrien zurückkehren." Er starb 1989 neunzig Jahre alt – in der Schweiz! Es ist wohl das Schicksal fast aller Einwanderer.

Aber lass uns zurückblenden in deine Jungendzeit: Erzähl von deinen Studien.

Am Ende der Primarschule wurde ich in ein Jesuitengymnasium nach Reggio Calabria geschickt – dem sogenannten „Piccolo Seminario“. Ärmeren Knaben stand der Zugang zu höherer Bildung nur offen, wenn sie angaben, Priester werden zu wollen. Um mein Studium zu ermöglichen, emigrierten meine Eltern nach Olten. Das wurde in meinem Dorf nicht verstanden. Ich war der erste, der das Dorf verliess, um studieren zu gehen. Dieser Entscheid entfremdete meine Familie der Dorfgemeinschaft noch mehr.

Im Jesuitenkollegium in Reggio Calabria wurde ich von Vorgesetzten und Kameraden „lo svizzero“ genannt. Nach drei Jahren führte ich mein Studium am Gymnasium in Como fort. Dort wurde ich sofort als „terrone“ (Schimpfwort für Süditaliener) etikettiert. Das Lyzeum (die letzten drei Jahre am Gymnasium) verbrachte ich wiederum in Reggio Calabria – und dort war ich nun plötzlich der „polentone“ (Schimpfwort für Norditaliener). Als ich an der Uni Fribourg studierte, war für mich der Titel „Tschinggeli“ bereit – und ich fand, das „li“ hatte einen fast sympathisch-liebenswürdigen Touch. Ich nahm dies humorvoll und war nicht beleidigt. Es folgten einige Jahre als Journalist und dann mehr als 30 Jahre als Lehrer für Italienisch und Französisch am Kollegium Stans. Grosse Freude machten mir hier die vielen Sonderwochen in Italien, in welchen ich meinen Schülern die Schönheiten von Natur und Kultur vermitteln konnte.

Du bist Italiener und gleichzeitig Schweizer. Was denkst du über die Schweiz?

Um ehrlich zu sein, ich wage es nicht, ein umfassendes Urteil dieser Grössenordnung abzugeben. In der Schweiz hatte ich das Glück und das Privileg, studieren und mein Brot verdienen zu können. Ich weiss nicht, was anders gewesen wäre und ich weiss nicht einmal, warum nur ich in meinem Dorf dieses Glück hatte.

Ich habe mich in der Schweiz immer gut gefühlt, mich jedoch nie gefragt, ob ich "Schweizer" bin. Ich weiss, dass ich einer der acht Millionen Menschen bin, die in der Schweiz leben, einem Land, das "nicht schlecht" funktioniert (typisch schweizerischer Superlativ!). Und es wäre wohl nicht schlecht, wenn wir ein bisschen mehr über die armen Länder nachdenken würden. Ich bin überzeugt, dass jeder von uns noch mehr tun und helfen könnte.

Wo fühlst du dich zuhause?

Früher habe ich mich oft gefragt: „Bin ich in Calabria zu Hause oder in Stans?“ Heute würde ich antworten: Ich bin zu Hause in meinem Zimmer, wo ich meine Bücher und die vielen Dinge habe, die mich an meine Vergangenheit, meine Familie und Freunde erinnern. Die Schweizer haben einen Heimatort: ich habe auch einen (Eich, in Kanton Luzern). Auf Italienisch gibt es diesen Begriff nicht (die offizielle Übersetzung lautet: „luogo di attinenza“, was „Beziehungs-Ort“ bedeutet).

Meine vielen Ortswechsel erscheinen mir (trotz schwieriger Momente) heute sehr positiv. Mir fehlen die Wurzeln, an welche ich mich klammern kann. Dieser Nachteil evoziert aber auch ein Privileg: Ich bin frei, die Welt ohne Vorurteile zu betrachten und ich fühle mich an vielen Orten zuhause: wie ein Nomade aus antiken Zeiten oder ein „S.D.F.“ (Sans domicile fixe), der immer wieder aufbricht und neu anfängt.

Würdest du diese «Reise» wieder machen?

Ja, auf jeden Fall. Weil das Leben schön ist.  Diese Reise wurde "in den Sternen geschrieben" und es musste so sein. Vielen Dank demjenigen, der dies für mich vorausgesehen hat und all denjenigen, die mir geholfen und mich unterstützt haben, meinen eigenen Weg zu gehen.

Und zum Schluss hoffe ich, dich einmal in Bova begrüssen zu dürfen: im kleinen Haus, das meine Frau und ich umgebaut haben, mit traditioneller griechischer Gastfreundschaft. Bova ist ein grekanisches Dorf hoch über Reggio – mit Blick auf die Strasse von Messina und den Ätna. Man kann dort mit vollen Lungen die griechische Kultur atmen, die in uns ist, und die uns noch viel beibringen kann!

Dort, wo sich das Ionische und Tyrrhenische Meer umarmen, vor dem Ätna, vor der Meerenge von Messina, wo jetzt die überfüllten „Barconi“ (Boote) ankommen voller Menschen, die vor Kriegen, Diktaturen und Hunger davonlaufen. Dort kannst du deine Augen schliessen und Odysseus sehen, der träumt von seinem Ithaka, dem Kampf mit Scylla und Charybdis, oder mit den Zyklopen; du wirst spüren, wie Antonius von seiner Kleopatra träumt; du wirst die alten Griechen sehen, die kommen, um ihre Kultur zu bringen;  du wirst das Kriegsgeschrei der Römer hören, die gegen Karthago kämpfen; du wirst die Mönche des San Basilio sehen, die aus Kleinasien kommen, um die ersten Klöster in Europa zu bauen.

 Auf dem Meer tauchen die Schiffe die Sarazenen au die an den Küsten rauben und wieder abhauen; die Kreuzritter, die plündern und „pilgern“, um Jerusalem zu „befreien“. Es ziehen Spanier, Franzosen, Deutsche und schliesslich die Savoyer mit Garibaldi durch Kalabrien an dir vorbei.  Alle sind sie gekommen, haben
Spuren hinterlassen, eindrückliche oder hässliche, alle haben sie „Blut gesaugt“, gestohlen und sind wieder weggegangen.

“Nel giardino delle Ninfe dove a primavera fioriscono i cotogni

Dort, «im Garten der Nymphen, wo im Frühling die Quitten  blühen»* dort ist die Landschaft, wo ich geboren wurde!

(*Ibico/ Ibykus, 6. Jh. vor Christus.)

  

11. Mai 2020