Das waren noch Zeiten - Marktplatz Luzern60plus im Jahr 2018, als man noch ohne Plexiglas und Gesichtsmaske in einem geschlossenen Raum zusammenkommen durfte... 

Leben mit Covid19:
Eine Frage der persönlichen Verantwortung

Der Schweizer Coronaweg setzt auf Selbstverantwortung und die Einhaltung der Vorsichtsmassnahmen. Das löst viel Unsicherheit aus. Was kann ich persönlich verantworten, im Alltagsleben, in der Familie? Besonders herausgefordert sind wir beim Umgang mit Angehörigen im Pflegeheim.

Von Monika Fischer (Text) und Joseph Schmidiger (Foto)

Je nach Persönlichkeit, Gesundheitszustand und Erfahrungen gehen die Menschen unterschiedlich mit der übertragenen Eigenverantwortung um. Wie stark schränke ich mein Leben ein? Kann ich es noch verantworten, mit der Bergbahn zu fahren, ins Kino zu gehen, auswärts zu essen? Ist eine Sitzung live möglich, oder sollen wir auf Zoom ausweichen? Die Entscheide fallen unterschiedlich aus. Die einen schränken soziale Kontakte fast wie im Lockdown ein und betonen die Solidarität. Andere fühlen sich gesund und wollen sich weniger einschränken. Die Meinungen sind gemacht, Diskussionen oft nicht möglich. Argumente, mit dem zunehmenden Wissen hätten sich die Ansichten der Verantwortlichen im Umgang mit dem Virus teilweise geändert, bringen meist wenig.

Keine starren Altersgrenzen mehr

Mich haben im Lockdown die dauernd wiederholten Aufrufe: «Bleiben Sie zu Hause, wenn sie älter sind als 65 oder einer Risikogruppe angehören», verletzt und geärgert. Ich empfand sie als diskriminierend. Wie froh bin ich, dass heute die diesbezüglichen Empfehlungen moderater ausfallen. So äusserte sich zum Beispiel Eveline Widmer-Schlumpf, Stiftungsratspräsidentin Pro Senectute Schweiz, in einem Interview mit der Zeitschrift «Zeitlupe» wie folgt: «Es ist zwar medizinisch erwiesen, dass das Immunsystem bei Menschen über 50 immer weniger leistungsfähig ist und im höheren Alter mehr Vorerkrankungen auftreten. Das heisst aber nicht, dass man mit 65 Jahren plötzlich zur Risikogruppe gehört und sich nicht mehr in der Gesellschaft bewegen darf. Das BAG hat seine Empfehlungen an besonders gefährdete Personen nach eingehender Diskussion mit Pro Senectute und anderen Fachleuten korrigiert. Es ist ein wichtiges Signal, dass nicht mehr mit einer starren Altersgrenze eine grosse und wichtige Bevölkerungsgruppe pauschal zum Rückzug ins Private gezwungen wird.»

Welche Kontakte sind sinnvoll?

Für mich habe ich einen Weg gefunden, fühle ich mich doch gesund und fit. Wie sehr die Verantwortung herausfordern und belasten kann, spüre ich im Zusammenhang mit unserem jüngsten Bruder im Pflegeheim Dreilinden. Lange voraus hatten wir ein Datum für seine Geburtstagsfeier bei uns zuhause in der ersten Novemberhälfte vereinbart. Mit den steigenden Coronazahlen und den damit verbundenen verstärkten Massnahmen fragten wir uns, ob ein Treffen sinnvoll sei. Viva Luzern hatte uns drei Geschwister regelmässig schriftlich über die geltenden Massnahmen in ihren Institutionen orientiert. Eine Woche lang waren die Heime bekanntlich geschlossen. «Wir sind wieder eingesperrt, im Haus geht das Jammern wieder los», berichtete der Bruder am Telefon. Alle atmeten auf, als die Heime für Besuche der Angehörigen wieder geöffnet wurden. Wie aber stand es mit der geplanten Geburtstagsfeier ausserhalb der Institution? Ein Anruf bei der im Brief an die Angehörigen angegebenen Stelle war hilfreich. «Wir können unsere Bewohnerinnen und Bewohner nicht einsperren und möchten ihnen auch Erlebnisse ermöglichen, die ihnen guttun», erklärte die freundliche Stimme am Telefon. Sie wollte mich gleich mit der zuständigen Pflege verbinden, um mögliche Lösungen zu besprechen. Schon während des Gesprächs wurde ich mir meiner Verantwortung bewusst. War ein Treffen von uns vier Geschwistern, alle über 70, die beiden Brüder mir Vorerkrankungen, jetzt wirklich angebracht und sinnvoll, auch wenn es das letzte Mal sein sollte? Nein, mein Entschluss war klar und leuchtete auch dem 71-jährigen Jubilaren ein.

Besuche sind wichtig

Ich wartete das Abklingen meiner Erkältung ab, bis ich meinen Bruder besuchte. Aktuell sind täglich die Besuche von zwei Angehörigen mit Maske während einer Stunde im Zimmer des Bewohners erlaubt. Beim Eingang ins Haus müssen sich die Besucher eintragen und die Hände desinfizieren. Dabei begegnete ich der Heimleiterin, die persönlich jedem Bewohner, jeder Bewohnerin für die Adventszeit eine Amaryllis ins Zimmer brachte. 

Beim intensiven Gespräch mit dem Bruder vergassen wir Zeit und Umgebung. Er hat sich mit der Situation weitgehend abgefunden. Es stört ihn nicht, dass er die Mahlzeiten in einem kleineren Raum an einem Tisch mit einem Kollegen in der nötigen Distanz zu den andern einnehmen muss. Im Gegenteil, war es ihm doch nie wohl in dem grossen Speisesaal. Auch Unterhaltungsangebote hat er selten besucht. Seine sozialen Kontakte finden vor allem in der zurzeit kalten und ungemütlichen Raucherecke vor dem Haus statt. Und doch weiss er, wie sehr manche Mitbewohner unter der Einsamkeit leiden, obwohl die Mitarbeiterinnen ihr Bestes geben.

Gratwanderung zwischen Schutz und Freiheit

Mit dem Rollator noch mobil, wollte er wissen, was für ihn als Heimbewohner an Bewegungsfreiheit überhaupt noch möglich sei. Er erfuhr, notwendige Besorgungen wie ein Zahnarztbesuch seien kein Problem. Auswärtige Besuche jedoch zögen drei Tage Isolation nach sich. Diese Einschränkung stört ihn. Es seien ja nicht die Bewohner, sondern die Angestellten, die das Virus hereintragen könnten. «Warum wird uns nicht dasselbe zugestanden wie den Mitarbeitenden, die sich im Alltag frei bewegen und auch in den Ausgang gehen können?» fragt er. Im Kopf ist die Einsicht in die eigene Verantwortung und in jene der Mitarbeitenden, die in ihrer anspruchsvollen Arbeit zusätzlich gefordert sind, wohl da. Und doch kann er seine ohnehin nicht einfache Realität nur schwer akzeptieren. 

Geduld und Kreativität 

Im Gespräch kommen wir immer wieder zum gleichen Schluss: Es bleibt uns nichts anderes, als die aktuelle Situation auszuhalten, damit zu leben und unter den gegebenen Umständen das Beste zu machen. Das beschäftigt mich auch im Zusammenhang mit Weihnachten. Für unsere Grossfamilie – mit Kindern, Schwieger- und Enkelkindern sind wir 21 Personen - ist klar, dass wir dieses Jahr auf eine gemeinsame Feier am Weihnachtstag verzichten müssen. Bereits organisiert ist das Wichteln, auch wenn die jeweils spannende Auflösung wohl über Zoom stattfinden muss. Kreativ suchen wir nach alternativen Ideen für Begegnungen, wollen jedoch die weitere Entwicklung der Pandemie und des Wetters abwarten. Dasselbe gilt für uns Geschwister. Wer weiss, vielleicht feiern wir das Zusammensein dieses Jahr mit einer Zoom-Première, wobei wir auf die Fachkenntnisse des im Heim lebenden Bruders angewiesen sind. 

11. Dezember 2020 - monika.fischer@luzern60plus.ch