Lebensmittel Buch

Von Meinrad Buholzer

Zu Hause sollen wir bleiben, hiess es. Was liegt in diesem Fall näher als der Griff zum Buch (das, im Gegensatz zu andern uns empfohlenen Tätigkeiten, keine Energie braucht, solange man dem Laster nicht im Dunkeln frönt)? Nur hat man uns die Buchhandlungen vorenthalten. Während Lebensmittelläden, Apotheken und Drogerien, selbst Tankstellen samt Shops die Türen offen halten durften, blieben Buchhandlungen und Bibliotheken geschlossen. Und selbst dann, als – nach sechs Wochen – Blumenläden und Baumärkte und Coiffeursalons wieder Kunden empfangen durften, blieben sie zu. Zwar konnte, wer das Verlangen spürte, sich tätowieren lassen, aber sich in einem Buchladen nach Neuerscheinungen umsehen? Um Himmels willen! Nein! Nein! Und nochmals Nein!

Eines der lächerlichsten Phänomene dieser Zeit waren die leergeräumten, ohnehin dürftig bestückten Taschenbuch-Regale in den Kiosken. Während daneben Periodika aller Art (und sogar Reiseführer!) zum Kauf auflagen, waren die Taschenbücher offenbar hoch toxisch... (Nein, natürlich nicht! Es ging um die Nicht-Benachteiligung der geschlossenen Buchhandlungen, doch zweifle ich, ob die in Kiosken gekauften Taschenbücher die Leiden der Buchhandlungen noch vergrössert hätten.) Und wie um die Absurdität auf die Spitze zu treiben, dürfen wir jetzt (Stand 11. Mai) wieder ins Restaurant, aber nicht in die meist grosszugig dimensionierten Lesesäle der Bibliotheken.

Dazu ein Blick über die geschlossenen Grenzen. In Berlin etwa durften Buchhandlungen unter bestimmten Auflagen offen bleiben – weil der Berliner Senat Bücher zu den „unentbehrlichen Kulturgütern“ zählt. Und selbst im arg gebeutelten Italien mit seinen rigorosen Massnahmen durften die Buchhandlungen schon Mitte April wieder Kunden empfangen, weil – so der Kulturminister Dario Franceschini – „das Buch ein Lebensmittel“ sei. Das ist es hierzulande offensichtlich nicht.

 

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Ein Zeitsprung. „Durch die Nacht“ heisst das Buch von Geneviève de Gaulle, einer Nichte des Generals, über ihre Zeit im Konzentrationslager Ravensbrück; dorthin kam sie mit 23 Jahren weil sie in der Résistance aktiv war. „Im Lager waren Bücher natürlich verboten“, schreibt sie, „aber mutige Gefährtinnen, die unter strenger Bewachung das Gepäck der Neuankömmlinge sortierten, brachten manchmal heimlich welche mit.“ Ein paar Stunden lang habe sie Moby Dick auf deutsch, eine Anthologie mit französischen Gedichten und Flauberts Salammbô in der Hand und „ich bin unter der Sonne Afrikas, am Fuss der Stadtmauer von Karthago“. Zeit und Grenzen verschwinden: „Ich kann meine Zelle verlassen, Entfernungen und Jahrhunderte durchmessen.“

Geneviève de Gaulle hat ihr Leben nach dem Lager dem Kampf gegen die Armut gewidmet. Merkenswert: Sie zählte nicht nur Kost und Logis zum Existenzminimum, sondern auch Kunst, Teilhabe am kulturellen Leben. „Der Mensch braucht mehr als Essen und ein Dach über dem Kopf.“ Im Lager hatte sie erfahren, dass ein Gedicht Kraft zum Leben, zum Überleben geben konnte. Es gab Frauen, die ihre mickrige, dringend benötigte Brotration buchstäblich geopfert haben – für ein Buch!

Das ist eine Dimension, die dem ach so wohlwollenden kulturellen Diskurs hierzulande fremd ist, obwohl unsere Magistraten und Magistratinnen bei ihren Schönwetter-Reden nicht müde werden, Kunst und Kultur in den höchsten Tönen zu feiern (und immer wieder behaupten, in ihrer Freizeit Bücher zu lesen). Offene Buchhandlungen und Bibliotheken wären ein Tatbeweis. Gewesen.

11. Mai 2020

Zur Person Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.