Neues Design braucht das Alter

Von Marco Meier

Man höre und staune. Nun haben sogar die Funktionäre unserer Parteien einen etwas anderen Blick auf die demografischen Statistiken geworfen und orten für einmal nicht nur die drohende Kostenexplosion, sondern das brachliegende Potenzial an Erfahrung, das ältere Menschen ungenutzt mit sich herum tragen. Parteien haben die Kraft der Weisheit entdeckt und darum eigene Sektionen für Senioren gegründet. Was sagt uns das? Das Alter ist an sich kein bemerkenswertes Phänomen. Entscheidend ist, wie man es normativ, also wertend interpretiert. Längst verdient das Alter eine radikale Umdeutung. Auch rein ökonomisch steckt darin nämlich weit mehr kreative Kraft als soziale Belastung. Aber man muss gesellschaftlich bereit sein, dieser Kreativität das verdiente Augenmerk zu schenken. In den meisten Bereichen des öffentlichen Lebens schreitet die Umdeutung flott voran. Nur das öffentlich-rechtliche Kulturradio (SRF 2 Kultur) vertreibt weiterhin erfolgreich die älteren Zuhörer aus ihrem Senderevier.

Ein Leitsatz der Moderne besagte, die Form müsse der Funktion folgen. In einer Gesellschaft, die nichts höher zu werten scheint als Aufmerksamkeit und äussere Erscheinung, hat sich diese Sicht völlig verdreht. Es kommt heute nur noch an, was formal perfekt gestylt ist. Gegenstände und Menschen scheinen nur etwas wert zu sein, wenn sie das formale Diktat eines Designers erfüllen. Diese Logik könnte man fürs Alter durchaus subversiv nutzen. Zwei Dinge fallen mir diesbezüglich im öffentlichen Leben ganz besonders auf. Junge Menschen sind meist nur noch mit verstöpselten Ohren unterwegs. Oder sie tragen gar Kopfhörer von der Anmut eines militärischen Gehörschutzes. Was sagen sie uns damit? Vermutlich signalisieren sie uns, dass ihre Welt nicht die um sie herum tönende und waltende, sondern eine digital als Musik oder Information über die Kopfhörer herbei geholte ist. Ein Lächeln im Bus oder Zug gilt dann sicher nie dem Gegenüber, sondern zielt sehnsüchtig in die endlose Weite der elektronischen Verständigung.

Ältere Menschen haben bezüglich Ohren meist das umgekehrte Problem. Sie möchten besser hören, was aus der wirklichen Welt an sie herangetragen wird. Darum entscheiden sie sich bei Gelegenheit für ein Hörgerät. Aber diese Gerätschaft darf möglichst nicht sichtbar werden. Am liebsten hätte man ein Ding, das gänzlich im Ohr verschwindet. Warum eigentlich? Das wäre ein wunderbarer Kunstgriff der Umdeutung. Warum designen Produktegestalter nicht Hörgeräte, die aussehen, wie die Ohrenstöpsel für die jeunesse dorée. Das könnte doch heiter aussehen. Ob jung oder alt, alle wären gleicher Weise verstöpselt unterwegs, weiss oder farbig, Hauptsache modisch. Den einen dient es dazu, sich von der Umwelt möglichst abzuschotten, den anderen, um weiterhin vollwertig am Alltagsleben teilnehmen zu können. Auch hier – alles nur eine Frage der Wertung.

Eine noch grössere Herausforderung für Designer dürfte der Rollator sein. Die vorherrschenden Modelle sehen so krakelig aus, dass man beim blossen Anblick zu stolpern droht. Das andere, im Frühling besonders auffällige Rollmobil ist der Kinderwagen. Die zeitgemässen Modelle sind formal gestylt, als dienten sie Kindern als Einstiegsdroge für den künftigen Landrover oder Cayenne von Porsche. Die Räder dieser modernen Kinderschlitten sind vier Mal grösser als beim Buggy der 90er Jahre, wirken geländegängig wie ein Vierradantrieb und sind vom Designer wohl im Windkanal getestet worden. Warum machen sich die Gestalter nicht endlich auch an den Rollator. Man müsste doch ein superleichtes, multifunktionales Fahrgerät für alte Menschen entwickeln, das mit einem eleganten Handgriff vom fahrenden Stuhl zum Einkaufs- oder Kinderwagen und zur ganz kommunen Spazierhilfe verwandelt werden kann – und, bitteschön, in allen Farben, passend zur Swatch gewissermassen. Leider ist der alte Hayek tot. Er hätte bestimmt den Designpreis für einen solchen Prototyp gesponsert.

Zur Person
Marco Meier, geboren 1953 in Sursee, ist Publizist und Philosoph. Als Chefredaktor der Kulturzeitschrift „du“, als Redaktionsleiter und Moderator der „Sternstunden“ beim Schweizer Fernsehen und als Programmleiter des Kulturradios DRS 2 hat er während 30 Jahren umfassende mediale Erfahrungen gesammelt. Marco Meier ist Mitglied des Vorstands der Kunstgesellschaft Luzern und sitzt im Stiftungsrat der Fotostiftung Schweiz. Er ist assoziierter Fellow des Collegium Helveticum der ETH und Uni Zürich und leitet seit Sommer 2012 das Lassalle-Institut in Bad Schönbrunn bei Zug. Marco Meier lebt mit seiner Familie in Luzern.