Jürg Schaffhuser im Velvet Office. 

Marschhalt

Der Werber Jürg Schaffhuser, vor kurzem 60 geworden, hat im Frühling, während des Corona-Lockdowns einen Marschhalt eingelegt: 8 Wochen – jeden Abend – 2 bis 3 Stunden. Entstanden ist ein ungewöhnlicher Podcast. Besuch in seinem Velvet Office. 

Toni Zwyssig (Text) und Joseph Schmidiger (Bild) 

Jürg Schaffhuser, aufgewachsen in Ebikon, ist Mitbegründer und Creative Director von «Velvet», einer renommierten Agentur für Kommunikation und Design. Zu den Kunden gehören unter anderen die Berlinale, Pro Helvetia, SRF, Schindler, Deutsches Theater Berlin, Gletschergarten Luzern, Paiste Cymbals und das Weingut Gantenbein.

«Marschhalt» gefällt ihm. Damit hat er Erfahrungen. Seit 40 Jahren nimmt er sich jedes Jahr eine Auszeit. Einen Monat oder länger ist er dann mit Rucksack, Notizheft und Zelt – zu Fuss - meist allein – quer durch Europa unterwegs. 2001 zum Beispiel wanderte er gemeinsam  mit Armin Furrer während acht Wochen von San Sebastian nach Gibraltar. Begleiten liess er sich jeweils eine Wegstrecke von Freunden und Bekannten, unter anderen von Alex Capus, Hans Leopold David, Marco Meier und Fanni Fetzer. Entstanden ist damals gemeinsam mit Armin Furrer das Foto- und Wanderbuch «Andando».

60 Jahre

Mit 60 verfüge man über eine Dichte von Erlebnissen und ein Erinnerungsvermögen, das später schwinde, sagt Schaffhuser.  Es gehe dabei weder ums Abschliessen noch ums Glorifizieren. Vielmehr um Fragen wie «Was war wichtig? Was kann auch in Zukunft wichtig sein?»

Seine 60 Lebensjahre verpackt Schaffhuser zu 60 Geschichten: Zu jedem Lebensjahr ein Ort. Dazu Begegnungen, Erlebnisse und Erkenntnisse: Erinnerungs-Versatzstücke eines ganzen Lebens:

Von «1959 Luzern» bis «2019 Irgendwo». Dazwischen Paris, Venedig, Wien Santiago de Compostela -Capri – Finisterre –– Luang Prabang – Berlin und mehr.

Ein paar Kostproben:

1959 Luzern

…Ich bin da. Ein Erzeugnis meiner Mutter Anna und meines Vaters Gottfried. Bei meiner Geburt werde ich so abrupt in den Kreissaal der St. Anna Klinik geworfen, dass Vater meine Ankunft verpasst. Ja, meine Eltern…

1969 Ebikon

…Auch der kleine Knirps wird mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt. Die ganze Familie sitzt vor dem Fernseher. Damals noch schwarzweiss. Egal der Mond ist sowieso schwarzweiss. Was dann Armstrong beim Betreten des Mondes in den Äther spricht, hat wie man später erfährt, ein Werbetexter formuliert. «Ein kleiner Schritt für einen Menschen. Ein grosser Schritt für die Menschheit.» Was für eine schöne Headline. Später wird sogar die Mondlandung in Zweifel gezogen. Hat sie tatsächlich stattgefunden, oder wurde sie in den Filmstudios Hollywoods inszeniert? Egal. Für mich ist klar, ich werde mal Astronaut oder Werbetexter…

1973 Ebikon

…In der Rotseebadi findet für viele von uns eine Verwandlung statt. Man geht als Kind hinein und als sexualisierter Spund wieder hinaus…

1980 Paris

…Ich verlasse meine Kindheit, meine Jugend, meine Freunde, mein Heimatland. Lasse meinen stolzen Vater und meine weinende Mutter zurück. Mache mich mit einer Arbeitsmappe und einem riesigen Koffer auf den Weg nach Paris…

1999 Luzern

…Das Schreiben von Codes steht am Anfang. Und Handbücher gibt es nicht. Wir entwickeln zusammen eine Idee für das Internet. Wir stellen uns eine Art Poesiealbum vor, in dem alle unsere Freunde ihre Gedanken und Fotos aufs Worldwideweb stellen und einander zeigen können. Wir überlegen uns, wie gross der Surfer sein müsste für diese Datenmenge. Ob der Surfer, den wir im Atelier haben, reichen würde oder wir einen zweiten anschaffen müssten. Doch dann finden wir das Ganze banal und werfen die Idee in den Papierkorb…

2004 Luzern

… «Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter.» Nicht nur im Märchen geschehen manchmal die wunderlichsten Sachen. Der Prinz findet sein Aschenbrötchen. Der Wolf sein Rotkäppchen. Die Schwiegermutter des Schneewittchens ihren Spiegel. Und wir finden uns…

2007 Luzern

…Ich liege auf einer Plastikpritsche im Krankenauto. Ich bin angeschnallt, damit ich auf der ruppigen Fahrt durchs nächtliche Hinterland nicht hoch geschleudert werde. Immer wieder leuchtet mir der Notsanitäter in die Pupillen. Wie ist ihr Name? Geburtsort? Was ist heute für ein Tag? Ich schaue aus dem Krankenautofenster und staune über das Schneegestöber. Wo zum Teufel kommen im Sommer bloss die Schneeflocken her…

2010 Arles

 …Van Gogh sagt: «Wenn ich male, höre ich auf zu denken.» Ich sage: «Wenn ich wandere beginne ich zu malen.» Ich greife zu meinem Malkasten. Nehme etwas Gelb vom Zitronenfalter, etwas Weissgräulich vom Gletscherfeld und etwas Blauviolett  vom Enzian. Auf der Wanderung von Luzern nach Marseille male ich Bilder für eine ganze Retrospektive. Und im Kabinett stelle ich meinen mehrfach besohlten Malpinsel aus. Meine Liebste gibt den letzten Schliff, nimmt Schuhbändel und knüpft daraus eine Topografie der schönen Gedanken.

2011 Saint-Martin-Lys

…Manchmal hänge ich in Grossstädten herum. Und manchmal hänge ich im Untergrund fest. Im nahegelegenen Hotel, mitten im Wald, finde ich Unterschlupf. Während im ganzen Haus Hochzeit gefeiert wird erzählt mir der Hotelier und Revierjäger alles über die Wildschweinplage in der Gegend…

 2012 Luzern

…Ich stelle mir die Frage nach dem Sinn des Lebens. Bis jetzt ist mir nur bewusst, dass das Leben eher einem Haufen Laub im Herbstwind gleicht als einer Strategie von PricewaterhouseCoopers. Doch noch bleiben mir ein paar Jahre, um zur Erkenntnis zu gelangen…

2014 Berlin

…Wir pitchen gegen ein paar gut aufgelegte Berliner Agenturen um die Vergabe des Kommunikationsauftritts für die Berlinale. Wolfgang und ich reisen mit dem Nachtzug. Es erinnert uns an alte Interrail-Tage. Die Stimmung ist aufgeräumt, bis wir feststellen, dass wir beim Umsteigen in Basel die ausgedruckten Entwürfe im Bahnhofbuffet stehen liessen. Das lässt uns im Zug nicht an schlafen denken. In einem Copy-Shop beim Bahnhof reicht es gerade noch, um die Plakate mit den Bären auszudrucken. Dieter Kosslick findet Gefallen daran – gerade wegen der verpixelten Qualität…

60 Kürzestgeschichten

«Die Texte kamen zu mir. Ich musste nicht krankhaft suchen.» sagt Schaffhuser. Er führe während seinen Wanderungen ein Tagbuch. Das kam ihm jetzt zu Gute. Kalender, Zeugnisse und Gespräche mit Verwandten und Bekannten, Freunden und Freundinnen, Wegbegleiter. Sie holten Momente ins Bewusstsein, die sich in ihrer Fülle zu einem bestimmten Ausschnitt des Lebens verdichten konnten. Vollständigkeit habe er nie angestrebt. An ein Zielpublikum habe er nie gedacht. Reaktionen habe er von Verwandten und Freunden, aber auch von SchulkollegInnen, nicht zuletzt, weil er den Podcast ins Internet gestellt habe.

Der Podcast

Die Texte Schaffhusers, mal poetisch und auch mal grell, liest der Schauspieler Klaus Brömmelmeier (Schauspielhaus Zürich). Die professionelle Vertonung hält die 60 Geschichten raffiniert zusammen und macht den Podcast zum Hörerlebnis.

Den Podcast kann man hier anklicken und - wer weiss - dabei seinen eigenen Kürzestgeschichten begegnen:

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