Sind Mehrgenerationenhäuser mehr als eine Projektidee?

Können Mehrgenerationenhäuser für ältere Frauen und Männer eine Alternative sein? Eine auf Erfahrungen abgestützte Antwort gibt es noch nicht. Zu neu ist die Idee. Und zu kurz ist die Zeit, in welcher erste Modelle geplant und verwirklicht worden sind.

Die Luzerner Architektengemeinschaft Lüscher-Bucher-Theiler (BSA SIA) arbeitet aktuell an einem Vorprojekt für eine Siedlung mit mehreren Mehrgenerationenhäusern in Immensee. Die Architekten haben den Wettbewerb gewonnen, der von der Missionsgesellschaft Bethlehem als Auftraggeberin ausgeschrieben worden ist. Es handelt sich um eine grössere Überbauung mit 150 Wohnungen, die so geplant werden, dass die gemeinsame Nutzung von Grosseltern, Eltern und Kindern möglich wird. In einem Haus sollen Wohnungen für ältere Bewohner (Grosseltern, Alleinstehende), für Klein-  und Grossfamilien eingerichtet werden. Man denkt an 2-, 4-, 5- bis 6-Zimmerwohnungen, mit der flexiblen Möglichkeit, einen Bereich abzutrennen und getrennt als Gemeinschaftsraum, Zusatzzimmer oder in Fremdvermietung zu nutzen. Die Planung sieht die Einrichtung eines Kindergartens, einer Cafeteria, von Arztpraxis und Coiffeursalon an einem gemeinsamen Siedlungsplatz vor. Die Bauherrschaft strebt als oberstes Ziel ein durchmischtes Quartier und sozialverträgliche Mietzinse an. Die Architekten arbeiten daran, dass diese Vorgaben erfüllt werden können.
Dieses Modell zeigt, in welcher Richtung die Vorstellungen gehen. Mehrgenerationenhäuser sind etwas Anderes als Mehrfamilienhäuser und Heime zusammengenommen. Die Bauten sollen für das Wohnen und teilweise Arbeiten in einer Siedlung geschaffen sein. Sie sollen die städtebaulichen und sozialpolitischen Anliegen für eine altersmässige Durchmischung der Wohnquartiere berücksichtigen und die gegenseitige Unterstützung der Generationen möglich machen. Dazu braucht es barrierefreie, leicht veränderbare Wohnungen von guter Wohnqualität und mit Schalldämmung.

Grosser Bedarf an Infrastruktur
Wichtige Infrastrukturen dazu sind Begegnungsräume für Events aller Art, Bibliothek- und Internetraum, Werkräume, Gymnastikraum, Sauna, Proberaum für Theater, Musik, Kino, Waschküchen und Trockenräume, Weinkeller, Abstellräume für alle Wohnungen. Zum möglichen Angebot zählen auch Abstellräume für Velos, Veloanhänger, Kinderwagen, Pflanzenüberwinterungsräume, grüne Aussenanlagen mit Begegnungs- und Grillplätzen, vielleicht ein Anteil Gemüsegarten, ein naturnaher Kinderspielplatz, Bouleplatz. Dazu kommen öffentliche Einrichtungen und Gewerberäume wie Restaurant, Cafeteria, ev. Wäscheservice, Coiffeur, Büros, Ateliers und Ladenlokale. Das sind Idealvorstellungen, formuliert von den Initianten der „Giesserei“ in Winterthur.

Dort ist ein Mehrgenerationenhaus der besonderen Art entstanden. In der Genossenschaftssiedlung „Giesserei“ in Winterthur gibt es 155 Wohneinheiten in einem umweltfreundlichen Holzbau. Wer dort wohnt, verzichtet weitgehend  auf das Privatauto. Das wirklich Besondere ist jedoch die Selbstverwaltung. Um in der „Giesserei“ eine Wohnung mieten zu können, tritt man dem Verein Giesserei bei. Dessen Dachorganisation ist die Gesellschaft für selbstverwaltetes Wohnen Gesewo. Im Frühjahr 2012, rund fünf Jahre nach der Gründung, zählte der Verein etwa 200 Mitglieder. Wer sich ernsthaft für eine Wohnung interessiert, muss einen Anteilschein der Genossenschaft erwerben, in der Höhe von zehn Prozent des Baupreises der Wunschwohnung. www.giesserei-gesewo.ch

Im September berichtete „Der Landbote“ (Regionalzeitung Raum Winterthur) im Zusammenhang mit der Gesewo von einer „Grossen Hürde“. Die Stadt Winterthur hat 34 der Giesserei-Wohnungen mit über drei Millionen Franken subventioniert. Diese vergünstigten Wohnungen sind weniger begehrt, weil Mieter und Mieterinnen ein Pflichtdarlehen von 30'000 bis 59'000 Franken – je nach Anzahl Zimmer – in die Genossenschaft einbringen müssen. Und dies zusätzliche zur Miete, die für eine 4 ½-Zimmerwohnung mit den Nebenkosten knapp 1900 Franken beträgt. Für Katharina Gander vom Mieterverband Winterthur steht die Grösse des Darlehens im Widerspruch zum angestrebten günstigen Wohnraum. Jetzt will die Baugenossenschaft Gesewo einen Fonds eröffnen, der Mieter mit wenigen Eigenmitteln unterstützen könnte.

In Holziken im unteren Suhrental soll das Mehrgenerationenprojekt „Vivace“ ermöglichen, dass wieder Grosseltern, Eltern und Kinder unter einem Dach leben können, sofern sie das wollen. Es geht um drei Neubauten mit 17 Wohnungen und sechs Studios. Hinter dem Projekt steht der Verein Convivenda mit Geschäftsführerin Ursina Häfliger. Jede Generation soll sich nach ihren eigenen Vorstellungen in das Projekt einbringen können. Es besteht die Möglichkeit, Dienstleistungen einzukaufen oder auch sich nur zum Wohnen am Projekt zu beteiligen. Das generationenübergreifende Zusammenleben soll unter den Bewohnern und Bewohnerinnen besprochen werden.

Skepsis bei der abl
In Immensee ist es die Missionsgesellschaft, in Winterthur eine Genossenschaft, in Holziken ein Verein. Und in Luzern könnte es eigentlich die abl sein! Grosse, flexibel gebaute Wohnungen, für junge Paare, für Eltern mit Kindern und Grosseltern. In spätern Jahren, wenn der Bedarf sich verändert, könnten sie allenfalls in eine Dreizimmer- und eine Zweizimmerwohnung aufgeteilt werden. können. abl-Geschäftsleiter Bruno Koch: „Wir haben die Idee bei der Überbauung Tribschen Stadt thematisiert, ohne Folgen allerdings. Die Erfahrungen lehren eben etwas Anderes. Wer so baut, und zwar in der ganzen Schweiz gesehen, sagt nachher, sie hätten in spätern Jahren noch nie eine Wand verschoben in diesen Häusern. Entweder klappt es mit dem Zusammenleben in der grossen Wohnung, und dann geht es auch in spätern Jahren noch, oder es geht eben von Anfang an nicht.“ Die abl könnte aber bei plötzlichem Bedarf, ergänzt Bruno Koch, zum Beispiel in der jetzt geplanten Siedlung Himmelrich 3, aus grossen Wohnungen zwei kleinere machen. Solchen Veränderungen stehe nicht viel im Wege. Mit der Konsequenz allerdings, dass dann Familienwohnungen verloren gingen. Zusammengefasst: Der Bau von Mehrgenerationenhäusern ist relativ einfach, die angestrebte Mehrfachnutzung jedoch findet kaum statt.
René Regenass – 15. Oktober 2012