Meinrad Buholzer. Bild: Joseph Schmidiger

Mein Outing

Von Meinrad Buholzer

Lieber ein Anzug nach Mass als eine Gesinnung von der Stange. (Kurt Tucholsky)

Wenn – gefühlt – die halbe Welt ganztags im Trainer daherkommt und mit Flip-Flops herumlatscht, dann greif ich zum Anzug (nicht täglich, aber regelmässig) und knüpf mir sogar schon mal die Krawatte. Und der orthopädische Chirurg, der mir Sneaker andrehen wollte und dazu gleich einen Werbespot mit den einschlägigen Schuhläden herunterleierte, hat mich zum letzten Mal gesehen.

Mir scheint, das Gefühl für adäquates Outfit hat sich still und leise davongemacht. So, wenn sich wieder mal einer mit tief sitzender Hose beugt und mir seine Arschfalte präsentiert. Sexy? Mich überkommt eher ein metaphysisches Grauen und ich denke mit Elfriede Jelinek: Diese Hose zeigt einfach alles. Auch das, was man gar nicht sehen wollte. Und wenn die hemdsärmligen Manager in ihren Betrieben flächendeckendes Du verordnen, weniger aus Menschenliebe, denn aus anbiedernder Imagepflege und ohne sich vom Turbokapitalismus zu verabschieden, dann sehne ich mich – ein wenig trotzig, klar – nach dem guten alten Sie.

Anderseits würde ich mich nie über einen Landarbeiter mokieren, der nur zwei Hosen sein Eigen nennt – wohl aber über jene, die für ihre vorsätzlich zerfetzten Edel-Jeans exorbitante Preise bezahlen. Soll ich weitere Lifestyle-Gruppen gegen mich aufbringen? Hochleistungssportler mit atemraubend hautengen, über und über mit Logos bedruckten Outfits? Ich weiss auch nicht, wann der Mensch auf die Idee gekommen ist, sein Wesen auf Slogans zu reduzieren und als wandelnde Plakatsäule herumzuwandeln. – Lassen wir es dabei bewenden.

Kurz: Mein Griff zu Anzug und Krawatte ist, zweifellos, eine Reaktion. Also bin ich ein Reaktionär. Damit kann ich, in diesem Fall, leben. Kommt erschwerend hinzu: Ich bin ein Mann, weiss, alt, hetero und – als ob das des Unglücks nicht schon genug wäre – (immer noch) katholisch. Damit bin ich gemäss zeitgeistiger Diagnose mitschuldig an so ziemlich allen Übeln dieser Welt. Will man diesen auf Social-Media-Format hinunter gedimmten und damit auf massenhafte Verdunstung eingestellten Kurz-Schlüssen glauben, dann gehöre ich zu einer aussterbenden und damit bedrohten Gattung. Vielleicht überlege ich mir ein Gesuch bei Pro Specie Rara.

Wenn ich mich aber umsehe, dann erblicke ich noch ziemlich viele Exemplare dieser Gattung. Könnte also noch eine Weile dauern. Aber Vorsicht! Je länger es dauert, umso grösser die Gefahr eines Backlash, zu Deutsch, dass das Pendel wieder auf die andere Seite ausschlägt. Nicht dass ich meine Hoffnung daraufsetze, nein, dagegen bin ich mit meinen 76 Jahren gefeit. Aber wie man wissen könnte, wenn man über den engen Horizont zeitgenössischer Diskurse hinaus denken wollte, lösen sich Aktion und Reaktion unablässig ab, und je extremer die Aktion, umso heftiger die Reaktion.

Das ist auch so etwas, das aus der Mode gekommen ist: Der Blick über das eigene kleine Gärtchen und über den Tag hinaus, um grössere Zusammenhänge der Zeitenläufe zu erkennen. Höher im Kurs steht das pausenlose Surfen auf den gerade aktuellen Trends, die einem die weltweite Flut des Netzes ohne Anstrengung ins Haus liefert (für eine Ebbe bräuchte es einen gewaltigen Stromausfall – immerhin denkbar). Hält erfolgreich vom Nach-Denken ab. Ein probates Mittel gegen die ach so lange Langeweile, die oft, wenn man sich ihr nur hingeben würde, zündende Ideen hervorbringt, oder bei der man plötzlich wieder zu Sinnen kommt.

Ja also, der Backlash. Wird vielleicht ziemlich ungemütlich. Und vielleicht laufen dann nicht nur die Manager auf unseren Strassen wieder blitzblank geschniegelt mit engen Anzügen und Krawatten herum, ein Heer von Schaufensterpuppen. Dann, sollte ich es noch erleben, werde ich den Anzug und die Krawatte vielleicht wieder in den Schrank hängen.

Das Schlusswort überlasse ich Karl Valentin: «Die Zukunft war früher auch besser.»

17. April 2024 – meinrad.buholzer@luzern60plus.ch

Bild: Michael Buholzer
 

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten (LNN). 1975-2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten – der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.