Ein anderes Leben nach der Frühpensionierung: Andrea Pfalzgraf.

«Ich versuche in den Tag hineinzuleben»

Sie war Reporterin und Dokumentarfilmerin beim Schweizer Fernsehen. Dauernd unterwegs, stets unter Hochspannung – bis es nicht mehr ging. Andrea Pfalzgraf (62) liess sich vorzeitig pensionieren und lebt nun die neue Freiheit. «Ich bin niemandem mehr Rechenschaft schuldig.»

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bilder)

Sie sei aufgeregt, sagt sie ein paar Tage vor der Vernissage. Es ist ihre erste Ausstellung, in der Galerie Märtplatz in Affoltern am Albis. Sie zeigt Fotografien, von einer Kuh mit Hörnern, von einem verlassenen Bauernhaus in Appenzell, von zerwühlten Betten in einem Hotelzimmer, von Blumenwiesen auf der Rigi. Die Ausstellung wird dem Schweizer Fernsehen wohl keine Sendeminute wert sein. Doch für Andrea Pfalzgraf ist diese Ausstellung wie ein Befreiungsschlag. «Für mich beginnt ein anderes Leben», sagt sie.

Die Reporterin
Andrea Pfalzgraf, Jahrgang 1960, hat sich beim Schweizer Fernsehen einen Namen als einfühlsame, engagierte Journalistin gemacht. Sie begann ihre Karriere 1995 als Reporterin der Sendung «10 vor 10». Sie war Produzentin, leitete die Sendungen «Quer» und «Leben live». Sie arbeitete als Filmautorin für die Sendungen «DOK» und «Reporter». Berichtete vom Patenkind in Mali, war auf dem Titlis im Einsatz mit Pistenchef Bissig. Drehte Filme über Kuckuckskinder, über den krebskranken Silvan, über das Leben nach einem Suizidversuch, über Julia, die Schauspielerin mit Down-Syndrom. Das Leben einer Reporterin, aufregend, spannend und total stressig. «Ich stand ständig unter Hochspannung, konnte vor einem Dreh nicht schlafen.» Manchmal liefen fünf Projekte gleichzeitig.

Ein Kraftakt, dem sie nach 27 Jahren nicht mehr gewachsen war. Sie fiel im Schnittraum ohnmächtig vom Stuhl, kam als Notfall ins Spital und glaubte, nach zwei Tagen wieder arbeiten zu können. So lief das nicht. Sie hatte Panikattacken zu Hause auf dem Sofa, traute sich nicht mehr vor die Türe. Es folgte ein siebenwöchiger stationärer Aufenthalt in der Klinik Gais, intensive Gespräche mit der Psychologin. «Ich habe jede Woche sehr viel über mich gelernt», sagt Pfalzgraf. Sie war sechzig Jahre alt und das Leben nahm eine scharfe Kurve. Oder wie es ein Dokumentarfilm von ihr treffend auf den Punkt brachte: «Weniger ist mehr – minimalistisch leben» (2018). Sie startete neu mit einem Pensum von 20 Prozent, entschied sich mit 62 Jahren die Karriere beim Schweizer Fernsehen definitiv abzubrechen und sich frühpensionieren zu lassen – obschon sie die Arbeit bei SRF trotz allem Stress bis zum Schluss als Traumjob empfunden hat. Als Frühpensionierte möchte sie sich aber nicht bezeichnen. Sie sei nun eine «Selbständige», sagt sie.

Ein erster Schritt zum Künstlertum? Andrea Pfalzgraf in der Galerie Märtplatz in Affoltern am Albis.

Die Leichtigkeit beim Aufwachen
Am Tag nach der Vernissage hat sie uns entspannt in der Galerie am Märtplatz empfangen und kurz durch die Gruppenausstellung geführt. Bei zwei ihrer Bildern kleben bereits rote Punkte, verkauft. (Bis zur Finissage werden es noch einige mehr sein.) Es war schon immer ihre Profession, mit ihren Bildern Geschichten zu erzählen. Doch die Fotografie ist ein anderes Medium. «Ich bin alleine unterwegs, exponiere mich persönlich, das braucht viel Mut», sagt Pfalzgraf. Was ihr gefällt: Die Technik, mit der sie beim Fernsehen auf «Kriegsfuss» stand, ist nicht mehr so bedeutsam. «Ich bin einfach mit meiner alten Canon-Kamera unterwegs, muss mich nicht atemlos an Abschlusszeiten halten.» Sie wohnt in Zürich und seit zwölf Jahren auch auf Rigi-First, wo sie sich im Keller ein kleines Atelier eingerichtet hat: ein alter Küchentisch, eingezwängt zwischen Schrank und Regalen. Sie arbeitet mit Farben und Materialen, kann über ihre Zeit autonom verfügen. «Ich bin niemanden mehr Rechenschaft schuldig», sagt Pfalzgraf, «und versuche in den Tag hinein zu leben.» Es ist diese Leichtigkeit beim Aufwachen, die ihr gefällt: keine To-do-Liste, wenige Termine. Nur noch dürfen statt müssen. 

So idyllisch? «Ich lebe diese Autonomie jetzt erst seit acht Monaten», räumt Pfalzgraf ein, «und habe viele Ideen im Kopf.» Doch dieser Freiraum birgt seine eigenen Risiken. Wer nicht weiss seine persönlichen Prioritäten zu setzen, droht im Aktivismus unterzugehen. Auch Andrea Pfalzgraf musste zurückstecken. «Manchmal tappe ich immer noch in die Falle, zu viel zu wollen», sagt sie. Zwei Ausbildungen, etwa als Atemtherapeutin, hat sie wieder abgesagt. Weniger ist mehr. «Ich muss nicht mehr überall dabei sein», sagt sie, «nicht mehr überall hinreisen.» Sie braucht die leere Zeit. Einfach ein Buch lesen, einfach jemanden treffen, einfach nichts tun. «Ich will in der Gegenwart sein, nicht an morgen denken», sagt sie. «Mein Leben findet jetzt statt.» Dennoch fragt sie sich zuweilen, ob sie auch etwas Sinnvolles für die Gesellschaft tun müsste, statt nur eigenen Projekten nachzugehen. «In diesem Spannungsfeld werde ich vorderhand leben müssen», sagt sie.

Die Visitenkarte in die Ostsee geworfen
Und was ist mit ihren künstlerischen Ambitionen? Sie sehe sich nicht als Künstlerin, sagt Pfalzgraf, auch wenn sie nun mit der Ausstellung vielleicht «den ersten Schritt zum Künstlertum» gewagt habe. Und wie steht es mit ihrer Identität, jetzt wo sie das Etikett der erfolgreichen Fernsehreporterin des Schweizer Fernsehens verloren hat? Keine Angst vor einem Bedeutungsverlust? «Dieses Prestige hat mir nie viel bedeutet», sagt sie und erzählt von einer längeren Wanderung, die sie an der Ostsee unternommen hat. «In Stralsund habe ich die SRF-Visitenkarte in kleine Fetzen gerissen und sie in die Ostsee geworfen.» Sie habe sich richtig erleichtert gefühlt, eine schwere Last sei ihr von der Schulter gefallen. «Ich war mir gar nicht bewusst, wie stark mich dieser Leistungsdruck bedrückt hat.»

Am Mittwoch, 26. April 2023, ist um 18 Uhr im Stattkino Luzern einer ihrer letzten Dokumentarfilme für SRF zu sehen: «Späte Liebe – verlieben im Alter» (2019). Könnte ihr das auch passieren? Ja klar, sagt Andrea Pfalzgraf, sie verliebe sich fast täglich neu - in ihr neues Leben. «Mit Laszlo allerdings, meinem Partner seit 30 Jahren, kann ich mir gut weitere 30 Jahre vorstellen.»  

Am Marktplatz 60plus vom 6. Mai 2023 in der Kornschütte (Rathaus Luzern) ist um 11.00 Uhr ein Gespräch mit Andrea Pfalzgraf programmiert.
Flyer Marktplatz 60plus

4. April 2023 – beat.buehlmann@luzern60plus.ch