Alma Noser: Ein Leben zwischen Ost und West

Von Hans Beat Achermann

Schon im Treppenhaus im Wesemlinquartier beginnt Geschichte: Familiengeschichte, Schweizer Geschichte, Weltgeschichte. Eingerahmt die Kopie eines Flugblatts von 1937, in dem Näfelser Bürger versuchten, die Einbürgerung des polnisch stämmigen Jakob zu verhindern, obwohl er in Glarus geboren wurde.  „Verkrämert nicht die durch das Herzblut eurer Vorfahren teuer erkaufte Heimaterde für einige lumpige Silberlinge….“. Jakob Furmanik, der 1937 Almas Vater wurde, trickste die Näfelser aus, liess sich in einer andern Glarner Gemeinde einbürgern. Im selben Jahr  mussten die Näfelser  ihm dann von Gesetzes wegen das Ortsbürgerrecht verleihen. Zudem hatte den 30-Jährigen inzwischen dessen Pflegemutter adoptiert, sodass er nun Fischli hiess. Doch noch als Kinder wurden Alma wie auch ihre zwei Jahre jüngere Schwester Laura als Papierlischweizer bezeichnet, „und irgendwie sind wir immer Fremde geblieben, obwohl wir gut vernetzt waren“.

Spurensuche im Osten

Die Geschichte geht weiter in der Wohnung: Die Foto einer zerstörten Stadt, datiert von 1915, also vor genau 100 Jahren. Die Russen hatten die polnische Stadt eingenommen: Rymanów, das in der damaligen Provinz Galizien lag  - die Geburtsstadt von Jakobs Vater und Almas Grossvater. „Wir konnten bis heute nicht mit Gewissheit herausfinden, ob wir jüdische Wurzeln haben, der Eintrag im Pfarreiregister ist kein Gegenbeweis“, sagt Alma Noser. Seit vierzig Jahren beschäftigt sich Alma (zusammen mit ihrer Schwester) mit der Herkunft.  Davon später.

Ein weiteres Bild auf dem Esszimmertisch dokumentiert Geschichte, die zur Lebensgeschichte von Alma gehört: Der vermummte zapatistische Freiheitskämpfer Subcomandante Marcos, fotografiert 2006 von Alma in der mexikanischen Provinz Guerrero.

Neugier und Hartnäckigkeit

Nochmals zurück ins Glarnerland, wo Alma mit vier Geschwistern aufwuchs. „Es war eine grosse und weit verzweigte Verwandtschaft. Der Vater hatte inzwischen mit zwei Schwagern eine Seidendruckerei in Krise übernehmen können, die sie mit viel Energie und Fachwissen zu einer der bekanntesten Stoffdruckereien in der Schweiz  machten.“ Alma, die Älteste, besuchte im Welschland – „widerwillig“, wie sie sagt - eine Handelsschule und kehrte dann in den Familienbetrieb zurück. Mit 21 heiratete sie den Arzt Erich Noser, drei Töchter kamen zur Welt, Janina, Barbara und Katja. 1968 ging vorüber und hinterliess auch bei Alma Spuren. „Doch dann, 1973, durch den Militärputsch gegen Allende in Chile und die gesellschaftlichen Aufbrüche in vielen Ländern  Lateinamerikas wurde ich erst richtig politisiert.“ Es begann ein jahrzehntelanger Einsatz für die Menschenrechte, gegen Ungerechtigkeit, gegen Unterdrückung und für eine grosszügige Asyl- und Flüchtlingspolitik.

„Mit 37 Jahren begann ich meine  vierjährige Ausbildung zur Sozialarbeiterin“, erzählt Alma Noser. Mit Ihrer Diplomarbeit „Eine Drogenberatungsstelle für Luzern“ reagierte sie,  gemeinsam mit ihren Kollegen vom Drogenforum Innerschweiz, auf die dramatische Situation in der Drogenszene in Luzern. Sie legten zusammen den Boden für eine neue Drogenpolitik in der Innerschweiz. Veränderung, Verbesserung der bestehenden Verhältnisse: Das war es, was Alma Noser in den folgenden Jahrzehnten immer wieder antrieb:  „Neugier, gepaart mit Hartnäckigkeit“ waren die innere Motivation – und der Glaube an eine bessere, gerechtere Welt. „Engstirnigkeit, Fremdenhass, Rassismus  habe ich immer zutiefst abgelehnt.“

Als Kaffeepflückerin in Nicaragua

Es folgten vier Jahre Lokalpolitik im Luzerner Stadtparlament als Vertreterin der Grünen. Zuvor hatte sie noch ein paar Monate in einer internationalen Friedensbrigade in Nicaragua verbracht, als Kaffeepflückerin in einer Plantage. „Wir waren schlechte Pflückerinnen, aber der Bevölkerung dienten wir dank der Internationalität unserer Brigade als Schutz vor Übergriffen der Contras“, erinnert sie sich. Ein Bild dokumentiert die einfache Hüttenunterkunft – Kontrastprogramm zum Leben im Wesemlinquartier in Luzern.

Die folgenden drei Jahrzehnte waren die Jahre des Engagements für Guatemala, Nicaragua, Mexiko, zwölf  Jahre lang bei Caritas als Projektverantwortliche für die Länder Zentralamerikas, nach der Pensionierung weitere 15 Jahre als ehrenamtliche Länderverantwortliche für die selben Länder bei Amnesty International. Wie sieht die Bilanz aus? „Vieles ist schief gegangen. Politisch sind zwar Fortschritte erzielt worden, die Verminderung der extremen Armut, die Verbesserung der Schulbildung, die Organisierung der Frauen, auch dies eine Errungenschaft der sandinistischen Revolution. Aber es gibt auch Enttäuschungen, zum Beispiel die Hinwendung zu einem extrem konservativen Katholizismus der Regierung und das Beharren auf der Macht der ewig Gleichen.“

Geblieben sind  wunderbare Freundschaften. Alma Noser hat das Elend gesehen, die Gewalt, gefährliche Situationen erlebt. Der Glaube ist geblieben, der Glaube an die Veränderbarkeit: „Manchmal bin ich wütend, aber verzweifelt kann ich doch nicht sein, wenn ich die Menschen dort sehe, die immer noch  kämpfen.“  Und nicht zuletzt hat das Engagement auch ihre persönliche Entwicklung beeinflusst: „Ich habe viel gelernt, diese Arbeit war auch ein Mittel gegen Verknöcherung und Verspiesserung.“

Suche nach Zusammenhängen

Das Projekt Lateinamerika ist für Alma Noser abgeschlossen, eben erst wurde sie von Amnesty verabschiedet.  Die Transatlantikflüge sind zu anstrengend geworden. Doch das Interesse und die Bilder einer magisch schönen Landschaft bleiben. Freundinnen und Freunde aus Zentralamerika finden bei ihr auch in Zukunft ein offenes Haus. Im  Fokus bleiben weiterhin die Ahnenforschung, die Reisen in die Ukraine nach Uzhhorod, wohin einst der Grossvater von Polen über die Karpaten auswanderte. Dort, in einer Möbelfabrik, hatte der gelernte Schreiner eine ungarische Strohflechterin namens Maria Belász kennen gelernt  – die Grossmutter von Alma, mit der er später weiter westwärts zog mit einem Zwischenhalt in Glarus.

Weltgeschichte und Familiengeschichte: Sie sind in Alma Nosers Biografie nicht zu trennen. Sie zeigen sich in zwei Broschüren, die sie verfasst hat. „Spurensuche in Transkarpatien“ und „Lebensläufe in unruhigen Zeiten“. Die Suche nach den Wurzeln und nach den grossen Zusammenhängen im privaten und im politischen Leben sind ihr ein dringliches Anliegen. Sie gehören zusammen, sie sind Pole eines reichen, runden Lebens. Um zur Ruhe zu kommen, kann sich Alma immer wieder in die Tessiner Berge zurückziehen, in das ehemalige Ristorante della Posta hoch über dem See. Auf die Frage nach den Lieblingslandschaften sagt Alma Noser: „Es ist der Blick in den Sternenhimmel und auf den Lago Maggiore, und es ist auch  jener vom Luzerner Konservatorium in die Berge und hinunter auf die Stadt Luzern, die trotz aller Reisen immer mein Lebens- und Familienmittelpunkt geblieben ist.“

19. Mai 2015