Der Flaneur ist unterwegs (15)

Raus aus der Stadt!

Von Karl Bühlmann 

Alain Berset hat mich, Angehöriger der Risikogeneration, aufgefordert, zuhause zu bleiben. Er fügte glücklicherweise bei: Es sei denn, sie müssen arbeiten gehen und können das nicht von zu Hause aus erledigen. Es ist der 27. März, morgen sollte ich den «Flaneur 15» abliefern. Das, Monsieur le conseiller fédéral, ist ein Grund, aus dem Haus und flanieren zu gehen, um anschliessend im Home-Office das Erlebte und dabei Gedachte niederschreiben zu können. Mentale Unterstützung für den zivilen Ungehorsam hole ich mir beim Philosophen Blaise Pascal, der einst sagte: Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.

 Also mache ich mich am 27.auf den Weg. Nicht in die Innenstadt, Gott bewahre! Zwar sieht man mangels Touristen den See wieder, der Schwanenplatz ist trostlos leer, die Pfefferspray-Hilfspolizisten vor den Schaufenstern sind verschwunden, die Kapellbrücke nicht mehr verstopft. Für längere Gespräch mit zufällig getroffenen Bekannten kann man sich auf reihenweise freien Parkplätzen die Beine vertrampen und bekommt mit, dass sich viele Hiesige bereits wieder allein gelassen fühlten und sich Cars und asiatischen Touristen zurückwünschten.

 Steinenstrasse

Nirgendwo einen Kaffee trinken, Zeitungen lesen können und wegen der grauen Haare erst noch kritisch angeschaut werden? Der Flaneur beschliesst, der Stadt den Rücken zu kehren und vom Löwendenkmal aus nordwärts zu wandern. Der Leu ist ohnehin eingeschlafen, der bröckelnde Sandstein, von millionenfachen Handyblitzen aufgeweicht, beginnt sich wieder zu härten. Der lärmigen Zürichstrasse ausweichend, geht es durchs bunte Handwerkerdörfli die Steinenstrasse hinauf. Die ehrbaren Malermeister halten die Fassaden gut im Schuss. Wer das Alte zerstört, ist des Neuen nicht wert heisst es in Zierschrift auf einer Fassade. Dem Guten das Herz, dem Bösen die Stirn ist barockig umrahmt auf einer anderen. Im Fenster der Künstlerbude klebt in Grossbuchstaben ein Karton: Auf dem Boden der Tatsachen liegt eindeutig zu wenig Glitzer. Auf dem Parkplatz hinter der Metzg sagt ein Doggi-Cervelat I bi guet und warnt parkplatzsuchende Fremdlinge Nachts vermietet! Vor der Hausnummer 25 bin ich versucht, das Ohr auf den Asphalt zu legen und zu lauschen, ob gerade ein Zug durch den SBB-Tunnel der Linie Luzern-Küssnacht donnert. Kürzlich las ich im Jubiläumsbuch des Quartiervereins «Hochwacht und Hof», dass der Scheitel des Tunnels bloss 2.5 Meter unter der Steinen- und Zürichstrasse liegt. Und dass es im Haus Nr.25 einen Einstiegsschacht für Bahnarbeiter in den Tunnel gebe. Ob der noch existiert? 

 

Am Verkehrsknotenpunkt Schlossberg gibt es weder ein Schloss noch einen Berg, dafür prangen zunehmend Tücher an den Balkonen mit «Spange NOrd». Warum nicht den nahen, über hundertjährigen Eisenbahntunnel für die «Spange» nutzen und verbreitern? Meine Tour führt über die Vallasterstrasse – Baumeister Josef Vallaster hatte 1906 nach Plänen von Othmar Schnyder das prächtige Maihofschulhaus im Stil des Späthistorismus in Rekordzeit erbaut – in die Friedentalstrasse. Der Anfang der Libellenstrasse ist mit einem Fahrverbot und Zubringerdienst gestattet signalisiert, die Strasse geradeaus mit Friedental und Krematorium – auch dies sind letzte Zubringer. Am Ende, wenn wir, frei nach Schiller oder Shakespeare, unsere Arbeit oder Schuldigkeit getan haben, können wir gehen, wird alles zur Einbahnstrasse. Kurios, dass das Friedental-Gelände, bevor 1885 der grosse städtische Friedhof eröffnet wurde, ausgerechnet Mohrental hiess. Vor der Urnerhof-Scheune an der Sedelstrasse steht eine neue Bronzeskulptur von Bildhauer P.L. Meier. Auf dem Parkplatz beim Jüdischen Friedhof gibt es eine nicht betreute Sammelstelle zur Abfallentsorgung. Das Plakat des Bundesamts für Umwelt warnt: Sammelstellen nur aufsuchen, wenn es unbedingt notwendig ist. Der Flaneur wundert sich: Wer geht denn zum Zeitvertreib und Verlustieren auf Entsorgungsplätze? 

 "Öpfuchörb" vom Sedel

Den Seehüslisweg hinunter zum Rotsee, in der Ebene, beim Brüggli über den Reuss-Rotsee-Kanal betrete ich unbemerkt Äbiker Boden. Auf der Kuppe gegenüber thront düster und mächtig die ehemalige Zwangsarbeitsanstalt Sedel, geschaffen 1871 gemäss Gesetz für widersetzliche Bevormundete, pflichtvergessene Eltern, liederliche oder trunksüchtige Personen, Bettler und Landstreicher, ab 1959 dann Strafanstalt für vorbestrafte Zuchthaus- und Gefängnissträflinge. Der Flaneur war als Vorschulpflichtiger im Gebäude, nicht als Insasse, sondern als Begleiter meines Vaters, der mit Ross und Federwagen einen Haufen «Wiiderüetli» dem Hauptaufseher zum Korben brachte. Zwei Wochen später konnten wir jeweils die geflochtenen «Öpfuchörb» und «Schiner» gegen Bezahlung abholen. «Chorbe»war für die Insassen die Möglichkeit, etwas zu verdienen, Pekulium wurde das genannt. Seit 1981 ist der «Sädu» ein Musik- und Atelierzentrum, die Zellen sind langjährig vermietet, es wird geprobt, es gibt Konzerte, die farbigen Graffiti an den Fassaden vermehren sich.

 

Den steilen Fussgängerweg hoch, in der Wiese mit den vielen mausenden Katzen steht verloren die namenlose Kleinstkapelle mit Dachreiter und Glöcklein. Die hölzerne Tür ist verwittert, das Fenster vergittert, im Innern links und rechts zwei Betstühle zum Knien und Sitzen, eine einfache Madonna mit Kind thront auf der Konsole. Über dem Türsturz ist 1846in den Sandstein gemeisselt. Hat ein aus der Gefangenschaft in der Jesuitenkirche freigelassener Teilnehmer des Freischarenzuges von 1845 die Kapelle gestiftet? Vor Ort gibt es keinen Hinweis. Doch die Kapelle ist, wie ein Blechschild belegt, bei der Gebäudeversicherung des Kantons Luzern mit der Nummer 2079a registriert. Falls allfällige Patrozinium-Rechte wegen Verjährung erloschen sind, werde ich beantragen, das Kapellchen der 16jährigen frühchristlichen Märtyrerin Korona zu weihen. Die Heilige, deren Gebeine in Aachen ruhen sollen, wird in Bayern, Böhmen und Österreich verehrt, hierzulande bisher nicht. Die eine Quelle sagt, sie sei die Patronin der Schatzgräber und gegen Seuchen und Unwetter zuständig; eine zweite bezweifelt das und spricht von Fake News. Wie dem auch sei: Wäre auf der gegenüberliegenden Wiese die eben abgelehnte Metro gebaut worden, hätte man die Station Terminal Corona nennen können. Analog der Metrostation Santa Maria del Soccorso in Rom.

 Terminal Corona

Mutterseelenallein wandere ich auf dem halben Velostreifen der Kreuzung zu. Kein Problem mit social distancing, hier wandert niemand, der Flaneur kommt sich vor wie Papst Franziskus auf dem Gang durch die verwaiste Via del Corso, bloss ohne Bodyguards. Statt das Pestkreuz von San Marcello erhebt sich der Strassenkreuz-Galgen mit weissen, grünen, blauen und gelben Richtungstafeln. Die Autos stauen sich, die Gelbphasen werden regelmässig missachtet, eine vorbeifahrende orangefarbene Strassenreinigungsmaschine ist mit Urban Sweeper angeschrieben. Wer redet im Zeitalter von Shutdown, LockdownTaskforce, Influencer oder Deadline (!) noch von «Schtrosseputze»? Ab nach Links über die Entsorgungsmeile zum Seetalplatz. Blumen selber pflücken wirbt eine Tafel, Bezahlung bequem möglich mit QR-Code. Leider hat es im hundert Meter langen Beet nur fein gesiebte Erde und nichts Blumiges. Dafür wächst auf der anderen Strassenseite das Recylingscenter Ökihof Ibach aus dem Boden, die Eröffnung ist auf August 2020 angesagt. Die imposante Kehrichtverbrennungsanlage dahinter ist seit fünf Jahren stillgelegt und bisher von keiner Hausbesetzergruppierung okkupiert worden. Beim Ibach-Kreisel verlässt man, ohne Strich am Boden, die Gemeinde Ebikon wieder und wechselt auf städtisches Territorium. Linkerhand sind Werkhof und diverse Umschlagplätze zuhause, nächtens kurven Freier auf Strich- und im Kriechgang umher. Auf der Brücke über Reuss und Emme überholt mich ein Kombiwagen mit der Reklame im Heck Indianische Liebesflöten. Zum Beweis, dass es ein seriöses Angebot ist, sind zwei solche Sechs-Lochflöten hinter der Scheibe festgeklemmt. Wenn ich mich nach Westen drehe, sehe ich die Siedlung, wo kürzlich die Warnung des Hauswarts wortwörtlich an die Wand geklebt war: An alle die im Treppenhaus Urinieren. Sie werden in Zukunft auf Video gebannt und nachträglich öffentlich ausgehängt!!! Das zu Ihrer Info! 

 

Immerhin, bloss ausgehängt, denke ich 300 Meter weiter, wo sich einst das «Gaugewäudli»befand. Hier, ausserhalb der Stadt, so wie heute die Abfall- und Abwasserentsorgung, befand sich die Richtstätte, wo Henker das Rädern, Verbrennen und Henken vollzogen, im 17 Jahrhundert waren es 360 Todesurteile. Nichts deutet heute mehr auf die schaurige Arena hin. Jetzt steht ein Unterwerk der SBB dort. Statt Galgen ragen Isolatoren in die Höhe, Lebensgefahr! Leitungen nicht berühren steht an der Vergitterung. Am Werkstattgebäude hängt ein Plakat: Sprecht im Team offen über Fehler. Das zeugt von Format. Sehr grossem Format. Offensichtlich ist damit die Belegschaft angesprochen. Die Aufforderung dürfte möglicherweise nach dem Abklingen der Corona-Pandemie nationale Ausweitung erfahren. Vorweg an alle Besserwisser: Auf dem Boden der Tatsachen liegt eindeutig zu wenig Glitzer.

Zur Person
Karl Bühlmann (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der ‚Luzerner Neuesten Nachrichten', 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.

30.03.2020