Heinz Gilli, Strassenwischer.

Romeo & Julia im Schnepfensteg

Ein positiver Corona-Test – trotz zweimaliger Impfung – ändert die Pläne unseres Flaneurs. Er begibt sich in Isolation, wandert virtuell und prüft dabei sein Erinnerungsvermögen.

Von Karl Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Angedacht war ein langer Spaziergang: Von der neuen Stadtgrenze am Littauerberg, über den Weiler Spitz, die Thorenbergbrücke über der Kleinen Emme im Littauerboden und weiter durch das 2010 eingestädterte Littau bis zum Kasernenplatz in der Kleinstadt. Der Flaneur wollte den Spuren folgen, die im Dezember 1844 und März 1845 die radikal-liberalen Freischaren hinterliessen. Diese marschierten nachts aus zwei Richtungen gegen die Stadt, um die vermaledeite konservative Pfaffenregierung im Ritterschen Palast zu stürzen und die Jesuiten aus dem Land zu jagen.

Der Flaneur denkt, das Virus lenkt: Eine Warn-Mail aus dem Hauptquartier der kantonalen Corona-Abwehr und anderntags der Befund des Labors – «Das Resultat Ihrer SARS-CoV-2 PCR ist POSITIV» – stoppt nullkommaplötzlich das Vorhaben, trotz zweimaliger Impfung. Weshalb der Flaneur diesmal virtuell in der Home-Office-Isolation wandert und sein Erinnerungsvermögen prüft: Was ist aus früheren Begehungen, an Beobachtungen und Fragen noch gespeichert?

 

 

Wo die Luzernerstrasse in die Bernstrasse übergeht, fällt ihm als erstes Ernst Buchwalder ein. Der 2014 vestorbene Künstler hat rechterseits im kleinen Haus mit Nummer 13 im kurzen Parallelsträsschen gewohnt. Er war ein ausserordentlich Kreativer im Umgang mit Schrift und Zeichen, Worten und Bild, ein lokaler Pionier der visuellen Poesie, international wahrgenommen, zuhause zu wenig wertgeschätzt. Einen städtischen Anerkennungspreis erhielt er 1976, das war’s. Ein paar Schritte weiter unten, diesmal linkerseits, seit einiger Zeit ein riesiges Baufeld, war der Maler Anton Buob zuhause. 2016, zwei Jahre vor seinem Tod, hatte der vielgereiste, oft in Paris weilende und der heiteren, schönen Darstellung zugetane Künstler sein Elternhaus verlassen, als letzter einsamer Bewohner des Baufeldes. Er war Anerkennungspreisträger 1968.

Nach rechts zweigt die Kanonenstrasse ab, die zum Hotel Gütsch führt. Warum nicht sie Gütschstrasse heisst, dafür der kurze Strassenstummel zwischen Geissmattbrücke und Baselstrasse unten in der Stadt, ist wohl einer Amnesie der damaligen Nomenklaturkommission zuzuschreiben. Gehörte vielleicht eines seiner Mitglieder den Luzerner Herrgottskanonieren an, die vom Gütsch aus mit historischen Kanonen den Fronleichnamstag morgens um sechs Uhr zur Freude der schlafenden Kirchenabstinenzler/innen mit Böllerschüssen einschiessen? Historisch relevanter ist der Hinweis, dass in der Nacht vom 31. März 1845, beim zweiten Freischarenzug, die von Oberst Ulrich Ochsenbein, dem späteren liberalen Bundesrat aus Bern, geführte Kolonne mit Pferden die Kanonen auf diesem Weg zur Gütsch-Höhe transportierten. Die Absicht war, von dort die Stadt zu beschiessen, in die eine zweite Freischarenkolonne schon bis zum Lädeli an der Baselstrasse vorgedrungen war. Der Plan ging schief. Die schlecht vorbereiteten und ausgerüsteten Angreifer verloren in der stockdunklen Nacht – keine Taschenlampen und Handys! – jegliche Orientierung und den Mut. Sie desertierten, Ochsenbein sah von der Beschiessung ab und trat den Rückzug an.

Weiter die Bernstrasse hinunter Richtung Kreuzstutz, wo im Kreisel der jüngst verstorbene Quartierbewohner und Strassenwischer Heinz Willi als grosse Skulptur verewigt ist – Sinnbild für stille und notwendige Helden der Arbeit und des Alltags. Ob der Abschiedskranz noch dort liegt? Irgendwo hier, im Umkreis des Aussenseiterquartiers Bernstrasse-Baselstrasse, könnte Benito Mussolini, ausgebildeter Primarschullehrer und angelernter Maurer, um 1902/04 für kurze Zeit logiert haben. Es wird behauptet, der spätere italienische Diktator habe – die Begriffe Fremdarbeiter oder Saisonnier gab es noch nicht - am Bau der Dietschiberg-Bahn mitgearbeitet. Se non è vero è ben trovato.

 

Den Flaneur zieht’s weiter zur Reuss. Er möchte in vorweihnachtlicher Zeit zum unbekannten Treffpunkt, wo sich vor hundert Jahren die lokalen Romeo & Julia küssten und eine schröckliche, parteipolitisch motivierte Schauergeschichte auslösten. Am Ende der Sentimattstrasse, bevor es unter dem erdrückenden Betonklotz der Autobahn hindurch geht, kommt die Erinnerung an die ersten drei Jahre an der Kantonsschule auf. Die Unterreal-Abteilung befand sich im Gebäudekomplex, wo einst die Aufzugsfabrik Schindler produzierte, ehe sie, um sich zu vergrössern, nach Ebikon zügelte. Gegen die Bahnseite war an der Dammstrasse das Zentralschweizerische Technikum untergebracht. Auf der Reussseite wurden in den behelfsmässig eingerichteten Räumen die Nichtlateiner in Algebra und Französisch unterrichtet. Unvergesslich bleiben zwei Dinge: Wie der beleibte Mitschüler und Sohn des berühmten Dirigenten Rafael Kubelik in der Vormittagspause am fliegenden Kiosk jeweils zwei oder drei Vanille-Schoggi-Brötli kaufte und verschlang. Als zweites die Halle für das Fach Turnen: Ein Bretterboden, der bei jedem Heupürzel oder Fallwurf eine Holzsplitter-Blessur hinterliess. Und dann die fixen eisernen Verstrebungen in der Mitte der Halle, alle ohne Schaumgummi-Abdeckung, um die man beim Fussball kurven musste. Die Matura wurde trotzdem geschafft! Ob’s überhaupt eine Dusche neben der Turnhalle hatte, weiss nicht mehr, sicher ist, dass es keine Unisex-Toiletten gab und diesbezüglich auch keine Nachfrage.

 

Eigentlich hätte der Flaneur von der Kanonenstrasse auf direktem Weg entlang der Reuss in die Militärstrasse gewollt. Das geht heute nicht mehr. Denn die Militärstrasse, einst als parallele Entlastungsstrasse zur Baselstrasse gebaut, ist in der Neuzeit von 300 Metern Länge auf deren 80 geschrumpft. 1877 hatte die Strasse eine Schneise in das Vorstadtviertel geschlagen. Jetzt endet der Stummel vor der Vergitterung am Eisenbahndamm und ist von der Sentimatt her nicht mehr begehbar. Dazu braucht es die Kehre über die (falsch benamste) Gütschstrasse. Dann gelangt man in die inferiore Sackgasse, eingezwängt vom Sentihof-Komplex links und vom aufgeschütteten Grünstreifen mit Ruhebänken und Kinderspielgeräten über dem Autobahndach mit der Fahrbahn zur Ausfahrt Luzern. Da ungefähr standen also einst die verwinkelten ärmlichen Behausungen, im Volksmund Schnepfengestell genannt. Wer ahnt angesichts der Charme-Losigkeit des Ortes, dass sich hier die luzernische Adaption des Romeo & Julia-Dramas von Verona abspielte? Woher der Name kommt? Nun, Schnepfenvögel sind eine grosse ehrenwerte Familie aus der Ordnung der Regenpfeiferartigen, sie haben lange Beine, lange Schnäbel, snepfa eben im Althochdeutschen. Als Zugvögel suchen sie feuchte Wiesen, Wälder und Sümpfe auf. Über das Schimpfwort Schnepfe für ein käufliches Mädchen, wie man früher nur zu flüstern wagte, schweigen wir lieber. Weil sonst die endlose Diskussion beginnt, ob es Schnepfe oder Schnepfin heisst und auch der Schnepferich im Wörterbuch der Unflätigkeiten seinen berechtigten Platz hat.

Die Luzerner Version von Romeo & Juli findet sich im Kantus-Prügel der Studentenverbindung Semper Fidelis. Der unbekannte Dichter hat, um des Reimes und der korrekten Silbenzahl wegen, aus dem Schnepfengestell einen Schnepfensteg gemacht. Diese dichterische Freiheit sei ihm posthum zugestanden.

Ein Semper hatte einen Schatz

den er sich auserkor

er wohne droben am Paulusplatz

und sie am Nöllitor

 

Sie trafen sich von ungefähr

in einem Omnibus

und Tags darauf am Schnepfensteg

da kam’s zum ersten Kuss

 

Doch leider ging die Sache schief

am Tage vor der Wahl

sein Vater war konservativ

der ihre liberal

 

Sie gestanden in heisser Liebeslust

den Vätern die Liebe ein

doch diese voll von Parteieswut

sie sagten beide nein

 

Sie las bei trübem Dämmerlicht

in Dante, Voss, Homer

sie las im Polizeibericht

man zog ihn aus dem See

 

Da blickt sie ihren Vater an

mit bittrem bösem Blick

griff schnell zu H2SO4

und sank in sich zurück

 

Des andern Tages trüb und bleich

da ging die Sonne auf

da hängten sich am Dünkelteich

die beiden Väter auf

 

Das ist die grosse Mordsgeschicht

geschehen am Tag der Wahl

der eine starb konservativ

der andere liberal.

 

Die geneigten und scharfsinnigen Leser und Leserinnen haben rasch bemerkt, dass sich die Luzerner Dichtung wesentlich von der Skakespear’schen Fassung unterscheidet: In Verona gehen die Liebenden in den Tod (und ein Verwandter wird gemeuchelt), in Luzern zahlen auch die Väter mit dem Leben. Vier Tote auf einmal – das Lied ist zu Recht mit Moritat zu Luzern betitelt. Der Balkon von Romeo und Julia in der Via Cappello Nr. 23 in Verona ist längst ein Wallfahrtsort für Touristen aus aller Welt, was man von der Militärstrasse in Luzern nicht behaupten kann. Da steckt irgendwo, wie ich mich erinnere, ein Schild im kleinen Rasenstück mit der Warnung Das ist kein Hundeklo!

Der Eintritt ins Julia-Haus in Verona kostet sechs Euro, zu Julias Grab viereinhalb Euro, im Kombiticket sechs Euro. In Luzerns Touristen-Wallfahrtsort, dem Löwendenkmal, ist der Eintritt gratis. Wie lange noch?