Gegen den Strich

Von Meinrad Buholzer

Der Gang mit dem Hund führt mich regelmässig zu einem Tennisplatz. Zuweilen schaue ich dem Spiel zu. Und merke, wie es mich langweilt, wenn die Unterbrüche überhand nehmen. Dann frage ich mich, ob der Genuss grösser wäre, wenn es darum ging, so lange wie möglich ohne Unterbruch zu spielen; wenn also nicht der unhaltbare, sondern der haltbare Schlag zählte, wenn sich nicht Gegner, sondern Mitspieler begegneten. Vielleicht fänden viele Leute so viel Harmonie langweilig. Ich erinnere mich jedoch, dass mich beim Federball oder Tischtennis jeweils die vielen Unterbrüche nervten und ich lieber lange Ping-Pong-Phasen gespielt hätte. (Das einleuchtende Gegenargument: Dass ein auf harmonisches Zuspiel beschränktes Spiel keine Herausforderung mehr ist und die Spieler nicht zu Höchstleistungen anspornt.)

Meine Sympathien gelten daher jenen Surfern und Skatern, die nichts wissen wollen von einer Aufnahme ihrer Sportarten für die Olympischen Spiele 2020. Für sie ist ihr Sport in erster Linie nicht ein gegenseitiges Kräftemessen, sondern eine Lebensart, bei der die Rivalität untergeordnet ist und Ranglisten von Nationalitäten lächerlich sind. (Anders als im Tennis ist hier nicht der andere Spieler, sondern die rücksichtlose Natur die Herausforderung.)

Jedenfalls finde ich es immer wieder erfrischend und erhellend, „gegen den Strich" zu denken, eingeschliffene Gewohnheiten, Konventionen, unwidersprochen Hingenommenes in Frage zu stellen. Das erinnert mich an einen belgischen Rechtsanwalt, den ich bei unseren regelmässigen Ferien auf der Domaine St. Christophe in der Provence kennen lernte. Die Angestellten des öffentlichen Verkehrs in Paris streikten mal wieder und der Anwalt meinte, statt die Leute mit stillgelegten Bussen und Zügen zu nerven, würden sie sie besser ohne Kontrolle, also gratis fahren lassen. Das brächte ihnen Sympathien statt Wut ein und würde noch mehr Druck machen auf den Arbeitgeber.

Er erzählte auch von seiner Erfahrung als Präsident eines Schachclubs in Brüssel. Bei Turnieren kam es regelmässig zum Streit zwischen Rauchern und Nichtrauchern. Die einen behaupteten, ohne Rauch könnten sie sich nicht konzentrieren; die andern hinderte der Rauch am klaren Denken. Beide Seiten empfanden die gegnerische Forderung als unzumutbar. Diskussionen brachten nichts, die Hoffnung auf eine Einigung schien aussichtslos. Da nahm der Anwalt die Nichtraucher zur Seite und verordnete ihnen vor dem nächsten Turnier eine Knoblauch-Diät. Und siehe da: Die Raucher beklagten sich umgehend über den unzumutbaren Gestank; die Nichtraucher behaupteten, der Knoblauch helfe ihnen bei der Konzentration. Die Raucher kapitulierten. Seither finden die Turniere nebelfrei statt.

Und da wir schon mal dabei sind beim Denken „gegen den Strich": Ich hätte eine Idee zu den ständig steigenden Gesundheitskosten, entnommen der „Leges Visigothorum", der westgotischen Vorschriften für die Ärzte aus dem 5. bis 7. Jahrhundert. Wenn ein Heilkundiger, nach einem vorgängigen Augenschein, eine Behandlung aufnahm, so musste er, der Arzt, eine Kaution bezahlen, die vollumfänglich verfiel, wenn er die Leiden nicht zu lindern vermochte und der Patient starb. „Mit dem Ableben eines Kranken erlosch zugleich jeglicher Anspruch des Behandlers auf eine Entlohnung für die von ihm erbrachten Leistungen." (Zitiert nach dem Katalog  „Abracadabera – Medizin im Mittelalter" der Stiftsbibliothek St. Gallen.) Das wäre doch mal eine mit der Marktwirtschaft kompatible, kostenwirksame Massnahme!

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.