Soziale und politische Teilhabe auch für ältere Bevölkerung. Schach im Vögeligärtli.

Statt die Alten zu diskriminieren -
Stimmrecht für Junge und Ausländer


Damit Seniorinnen und Senioren die Volksabstimmungen nicht dominieren, möchte Ökonomieprofessor Bruno S. Frey das Stimmrecht der Generation 80plus beschneiden. Eine sinnvolle demografische Korrektur - oder wieder eine „Schnapsidee“? 

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

In der „NZZ am Sonntag“ (vom 7. März 2021) plädiert der emeritierte Zürcher Ökonomieprofessor Bruno S. Frey für ein gewichtetes Stimmrecht für Junge und Alte. Um die zunehmende Alterung der Gesellschaft zu korrigieren, sollen die Jugendlichen ab 16 Jahren eine halbe Stimme erhalten, im Gegenzug möchte er die Stimmkraft der Alten beschneiden. „Bestimmen sie nicht ungebührlich unsere Politik, besonders weil ihr Anteil an der Bevölkerung dauernd ansteigt?“, fragt Bruno S. Frey. Sein Argument: „Die politischen Entscheidungen von heute gestalten entscheidend die Zukunft, von der die Seniorinnen und Senioren aber in viel geringerem Ausmass betroffen sind als die Jüngeren. Sie sollten deshalb die Volksabstimmungen nicht dominieren können.“ Konkret schlägt Frey vor, den über 80-Jährigen ein Stimmengewicht von 50 Prozent, den über 100-Jährigen ein Stimmengewicht von 20 Prozent einzuräumen.

Droht die Gerontokratie?

Zutreffend ist, dass der demografische Wandel die Gewichte zwischen den Generationen verschiebt. In der Stadt Luzern lebten Ende 2019 rund 16 000 Frauen und Männer im AHV-Alter, bis ins Jahr 2025 dürften es 17 500 sein. Auch die Zahl der 80plus wird stark zunehmen. Bis ins Jahr 2045, so die Prognose, dürften in der Stadt Luzern 8 700 Personen 80-jährig oder älter sein; das entspricht gegenüber 2019 einer Zunahme von 3 500 oder etwa 65 Prozent. Gesamthaft wird die Luzerner Bevölkerung über 65 Jahre in den nächsten 25 Jahren um rund 50 Prozent zunehmen. Droht deshalb die Gerontokratie, die Herrschaft der Alten?

Jedenfalls häufen sich die politischen Vorschläge, die versuchen, den demokratischen Grundsatz «eine Person, eine Stimme» auszuhebeln. So schlug die Zürcher Justizdirektorin und ehemalige SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr vor, die Stimmkraft nach Alter zu variieren: zwei Stimmen für 18- bis 40-Jährige, anderthalb Stimmen für 40- bis 65-Jährige und nur eine Stimme für die AHV-Generation (ab 65 Jahren). In unserer Familie verfügten demnach Tochter und Sohn zusammen über vier Stimmen, wir Eltern müssten uns mit zwei Stimmen zufriedengeben.

Ein solches «Stimmrecht light für Senioren» würde - wie der neuste Vorschlag von Professor Bruno S. Frey - die ältere Generation in übelster Weise diskriminieren. Auch der Vorstoss des ehemaligen Schwyzer Nationalrats Andy Tschümperlin, der als SP-Fraktionschef 2013 eine Alterslimite von 65 Jahren für eine parlamentarische Tätigkeit ins Gespräch gebracht hatte, orientierte sich an einem überholten Altersbild; von der Fraktionskollegin Margret Kiener Nellen wurde Vorschlag zu Recht als «Schnapsidee» abgetan. 

Politische Teilhabe auch für ältere Generation

Das defizitäre Altersbild, das unsere Gesellschaft lange Zeit prägte und die ältere Generation auf die Ruhebank versetzte, wirkt in den Köpfen nach: jung und dynamisch ist gefragt, Falten und Glatzen gelten nicht als zukunftsträchtig. Natürlich trifft es zu, dass die ältere Generation bei politischen Abstimmungen mehr Gewicht hat – auch weil die Stimmbeteiligung in dieser Altersgruppe deutlich höher ist. So beteiligte sich bei den letzten Kommunalwahlen vom März 2020 in der Stadt Luzern nur ein Viertel der 20- bis 29-Jährigen am Urnengang, während in der Altersgruppe der 70- bis 79-Jährigen fast 53 Prozent an den Wahlen teilnahmen. Bei den 80plus waren es immerhin gut 40 Prozent.

Aber bedeutet dies, dass die ältere Generation nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist? Was ist mit den Grosseltern, die sich um ihre Enkel kümmern? Was zählt die Angehörigenpflege? Das freiwillige Engagement der Rentnerinnen und Rentner zum Beispiel beim Lesementoring, der persönlichen Unterstützung von Lehrlingen und Migrantinnen («HelloWelcome»), die Solidarität mit der Klimajugend? Die Generation der Babyboomer hat längst gemerkt, dass sie für die Welt der nächsten Generationen ebenso verantwortlich ist, wie etwa die GrossmütterRevolution, die sich für mehr Generationengerechtigkeit einsetzt.

Auch die Uno-Prinzipien für ältere Menschen betonen die Bedeutung politischer Teilhabe der älteren Generation: «Ältere Menschen sollen in die Gemeinschaft integriert bleiben und aktiv an der Formulierung und Umsetzung von Politiken teilnehmen, welche sie direkt betreffen», heisst es, und «ihr Wissen und Können mit der jüngeren Generation teilen». Wer die Alten politisch entmündigen will, schwächt die Zivilgesellschaft und den Zusammenhalt der Generationen. Und stellt sich gegen die Bundesverfassung, die jegliche Diskriminierung nach Alter, Geschlecht oder Behinderung untersagt.

Stimmrecht 16 einführen

Dennoch kann die Alterung der Gesellschaft in Zukunft als «Konfliktlinie beim Elektorat deutlicher hervortreten», wie der Politologe Silvano Möckli bereits 1993 zu bedenken gab. Die demografischen Veränderungen hätten allerdings nur einen geringen Einfluss auf den Ausgang von Volksabstimmungen und Wahlen, sofern Abstimmungsverhalten und Beteiligung der Altersgruppen ähnlich blieben, vermutete er damals. Als mögliches Korrektiv brachte Möckli das «Demografische Mehr» ins Gespräch; danach wäre eine Mehrheit der unter 50-jährigen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger für ein Ja nötig. Allerdings dürfte diese Variante, wie die immer wieder diskutierte Korrektur des Ständemehrs zugunsten der grösseren Kantone zeigt, politisch kaum durchzusetzen sein.

Hingegen hat das Stimmrecht 16, das die Stimmkraft der jüngeren Generation stärken würde, inzwischen mehr Erfolgschancen. Nach dem Nationalrat hat sich Anfang Februar auch die staatspolitische Kommission des Ständerates dafür ausgesprochen, auf nationaler Ebene das Stimmrechtsalter auf 16 Jahre zu senken. Heute können junge Leute nur im Kanton Glarus ab 16 Jahren abstimmen. Eine längst fällige Massnahme zur Korrektur des Ungleichgewichts zwischen den Generationen wäre auch das Stimmrecht für die seit Jahren in der Schweiz wohnhafte ausländische Bevölkerung. Da sie im Durchschnitt jünger ist, könnte sie das demografische Gleichgewicht leicht korrigieren. – 10.3.2021

beat.buehlmann@luzern60plus.ch