Stor-Chen trifft Stör-Chin

Von Karl Bühlmann

Der Flaneur kommt ins Sinnieren: Wann und wo werden der erste Chinese, die erste Chinesin von einem Auto japanischer oder koreanischer Fabrikation in Luzern überfahren? Zwischen Seebrücke und Hofkirche ist die Chance am grössten. Vielleicht zeigt der letzte fotografische Abschiedsgruss in der Digitalkamera die Rigi mit weissem Kragen. Auch die Königin der Berge wird den Shitstorm in den sozialen Medien nicht dämpfen können. Wie wird die staatliche Nachrichtenagentur in Beijing das Unglück, den „tragischen Unfall“ vermelden? Mit der Schlagzeile „Auf offener Strasse in Luzern angefahren“? – Wenn jemand im Freien erschossen wird, geschieht es auch immer auf „offener“ Strasse. Obwohl keine offene Baustelle, kein offener Leitungsgraben weit und breit zu sehen ist. Und es passiert nicht am Tag, sondern am „helllichten“ Tag, selbst wenn der Himmel wolkenverhangen ist

Am Reussquai stauen sich vor dem Flaneur die ohrenstöpselbewehrten Gruppen. Die Stufen zur Kapellbrücke sind verstopft, an den Marktständen wird die Ware betatscht, durch die Kamera gezoomt und dokumentiert. Eine Touristin drängelt sich an den geduldig wartenden Einheimischen vorbei, quasselt mit der Marktfrau, die weder Mandarin noch Mongolisch versteht, lässt sich nach langem Hin und Her vor den kopfschüttelnden Luzernerinnen und Luzernern ein Stück Käse abschneiden und einpacken, grübelt nach dem Portemonnaie, kommt mit dem Geld nicht zurecht. Aus dem Hintergrund drängt unmissverständlich ihr filmender Mann zur Flucht, die Frau lässt den Käse wortlos liegen und streunt weiter. Vor der „Mostrose“ stillt eine Touristin ihr Baby an der Brust und schleckt gleichzeitig ein Eis am Stil, ihr Partner filmt, mit Pilatus im Hintergrund. Ein Berner Sennenhund, der unter der Gemüse-Auslage hervorlugt, erinnert mich an die unvergessliche Nachricht, die ich kürzlich im lokalen Onlineportal las: „Der Polizeihund ‚Wallace‘ war dem Einbrecher auf der Spur und wurde nur kurze Zeit später in einem Gebüsch gefunden.“

Der Flaneur ist auf dem Kornmarkt angekommen. Eine Stange steckt im Boden, zeigt an, wo und wie hoch die Brunnensäule zu stehen käme, wenn das Projekt der Maskenliebhaber-Gesellschaft umgesetzt würde. Der vor 15 Jahren gestorbene Bildhauer Charles Gerig hatte die Idee der mit lauter Fasnachtsgrinden garnierten Säule einst entwickelt, jetzt liegt ein Antrag zur Realisierung vor. Die städtische SP/Juso-Fraktion geht mit einem dringlichen Postulat dagegen auf die Barrikaden. Nicht die bulimische Phallusform des Objekts entsetzt die Gegner, nicht ein Mangel an künstlerischer Qualität oder die Fragwürdigkeit des Standorts vor dem 400 Jahre alten Rathaus. Sondern das „nationalistische und sexistische“ Weltbild des Denkmals und der Fakt, dass die 199 Jahre alte Maskenliebhaber-Gesellschaft ein rein männlicher Verein ist.

Mein Gott Walter, sinniert der Flaneur, wozu der Begriff „sexistisch“ alles herhalten muss! Was ist nicht alles sexistisch? Der Fussballclub, der nur Männerteams stellt? Parkplätze, die nur Frauen vorbehalten sind? Was ist mit dem Fritschibrunnen auf dem Kapellplatz, mit dem kriegerischen Bannerherr aus dem Fundus der Zunft zu Safran, die seit 1400 nur männliche Mitglieder hat? Und was erst sind die Diskurse um Sexismus und Unterdrückung in der Sprache! Der Kampf gegen Substantive im Maskulinum hat die Menschheit ergriffen. Während ich diesen Beitrag schreibe, läuft das Radio, und ich höre von Konsumentinnen und Konsumenten, Kunde und Kundin, Patientinnen und Patienten, Lehrerin und Lehrer, Künstlerinnen und Künstler, Studentinnen und Studenten. So etwas färbt ab, liebe Leserin, lieber Leser, und es nötigt mich sanft, auch Touristinnen und Touristen sprachlich auseinanderzuhalten. Auf dem Kornmarkt frage ich mich, ob eines Tages das Gasthaus „Raben“ neben der Rathaustreppe zur „Räbin“ wird. Oder weshalb auf der anderen Platzseite der „Storchen“ nicht „Störchin“ heisst und warum seltsamerweise immer der Klapperstorch und nicht die Klapperstörchin die Kinder bringt. Angesichts der touristischen Globalisierung Luzerns wird es ohnehin zu einer Umbenennung der Gaststätte in Stor-Chen oder Stör-Chin kommen.

Über dem Hauptportal am Rathaus machen zwei Löwen „s‘Männli“ und halten das Luzerner Schild. Das linke Tier mit sichtbarer steifer Rute ist zweifellos männlich, das Exemplar rechts gibt die sexuelle Identität nicht preis, offensichtlich ist es ein Translöwe oder eine Translöwin. Ob der Entlebucher Bildhauer Joseph Vetter selig, Lehrer an der Kunstgewerbeschule, der 1907 die Replika-Löwen schuf, das so gewollt hatte, entzieht sich des Flaneurs Kenntnis. In den Bogenzwickeln darunter thronen als Reliefs zwei frauliche Figuren, die Justitia und die Temperantia, Allegorien der Gerechtigkeit und der Mässigung. Das weibliche Geschlecht ist im skulpturalen Bilderschmuck am Luzerner Rathaus in der Mehrheit, die Gendergemeinde hat wenig zu reklamieren. Doch, wer weiss, möglicherweise kommt das Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds an der Uni Luzern mit dem Thema „Die Nachteile des Nachdenkens“ zu einem anderen Schluss.

8. Mai 2018

Zur Person: Karl Bühlmann (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der Luzerner Neuesten Nachrichten, 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.