Yvonne Volken. Bild: Joseph Schmidiger

Süsssaures aus dem Totenreich

Von Yvonne Volken

Nun haben sie uns wieder scharenweise heimgesucht, die fürchterlich verkleideten kleinen Halloween-Gestalten, und forderten «Süsses oder Saures!». Ich gab ihnen, was sie am meisten schätzen: Süsssaures. Sie zogen zufrieden von dannen und teilten die Beute auch schön. Süsses oder Saures – die Bedeutung dieser Formel wurde mir eigentlich erst jetzt klar: «Entweder du gibst mir Süsses oder ich gebe dir Saures.» Das ist ja das Motto des US-Präsidenten, sehr verniedlicht zusammengefasst. 

«Süsses oder Saures» – eine Politmaxime direkt aus dem Totenreich, könnten wir daraus schliessen. Denn Halloween, der 31. Oktober, ist ja der Tag, an dem das Tor zur «anderen Welt» offensteht und damit auch die Grenze zwischen Leben und Tod. Einmal im Jahr können Geister und Feen die Welt der Menschen betreten und Schabernack treiben, sofern wir ihnen nicht Süsses geben oder zur Abschreckung eine Kürbismaske in den Garten stellen. Und das soll helfen?

Da erscheint mir unser eigenes «Halloween» irgendwie einleuchtender. Unsere Vorfahren in der Alpenwelt berichteten über Grat- oder Totenzüge in den Quatemberwochen (jeweils der Woche nach dem Jahreszeitenwechsel). Damals, als es Himmel und Hölle noch gab, krochen die Unerlösten, die Armen Seelen, aus ihren Gletschergräbern, wo sie in der Kälte schlottern mussten, bis wieder eine Quatemberwoche war. Sie zogen vier Mal pro Jahr, vorab aber ab dem 13. Dezember, irrlichternd über die Grate und schafften es manchmal bis hinunter in die Dörfer, wo sie um Erlösung bettelten, zum grossen Schrecken der Lebenden, die dann nicht Süsses gaben, sondern zu beten begannen.

Den Weg in den Himmel schafften nach der damaligen Vorstellung nur wenige, Heilige eben. In die Hölle kamen die Grundbösen, das aber wussten wir Kinder sicher. Der Teufel als grausamer Rächer, das Höllenfeuer und viele Folterqualen für jene, die willentlich gegen Gottes Gebote verstossen hatten, Todsünden begangen hatten und keine Reue zeigten. Eine süsse Logik hatte das für uns früher, die wir uns um das Gute, das heisst das Un-Sündige bemühten und fleissig beteten. 

Diese Logik allerdings hatte der Teufel schon längst selbst in Frage gestellt, zumindest wenn wir den Worten von Goethes Bösewicht und Schlaumeier Mephisto glauben wollen: «Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.» Böse und Gut – eine Frage der Dialektik? Und könnte das bedeuten, dass zum Beispiel der Führer der USA, dass seine Adlaten und bösen Freunde in der ganzen Welt eigentlich auf der Seite des Guten stehen? Indem sie die Schwächsten verfolgen und unterdrücken, indem sie lästern und fluchen und prassen und lügen, appellieren sie also an das Gute im Menschen, an unsere Ethik und Moral, an Solidarität, an unser Engagement für Gerechtigkeit?

Dante, der Dichterfürst aus der Renaissance, beschrieb in seinem Epos «Die Göttliche Komödie», dass dem nicht so ist. Auf seiner schauerlichen Reise durch das «Inferno» begegneten ihm und seinem Führer Vergil nicht nur anonyme Verdammte, sondern die ganze politische, gesellschaftliche, kirchliche Nomenklatur seiner Zeit bis hin zu dunklen Vorzeiten.* Dante schildert in allen Details einen ganzen Katalog von Höllenstrafen für Machtmenschen aller Couleur. Korrupte Politiker zum Beispiel, die durch den Handel mit öffentlichen Ämtern zu Geld gekommen waren, werden im «Inferno» in einen See aus kochendem Pech getaucht, der die klebrigen Finger und dunklen Geheimnisse ihrer korrupten Geschäfte repräsentiert. 

Aber Dante und seine Jenseitsvorstellungen, die lange ja auch die unseren waren, sind längst Tempi passati. Wir stellen fest, dass die Hölle auf Erden stattfindet. Auch das Paradies können wir hier schon erlangen. Es steht allerdings nur vergleichsweise Wenigen offen und diese müssen keineswegs unbedingt gute Menschen sein. Im Gegenteil: Der Begriff «Gutmensch» wird seit den 1980er-Jahren als «abschätzige Bezeichnung für Personen verwendet, die humanistische, altruistische, auch religiös-mitmenschliche Lebensziele und Argumente höher einschätzen als utilitaristische und ihr Handeln, ihre Politik, ihr Leben danach ausrichten» (Auszug Wikipedia).

Gute Menschen, verunglimpft als Gutmenschen, weil sie einen zu hohen moralischen Anspruch haben? Lassen wir also die Finger vom permanenten Gutsein, jetzt wo uns die ewige Seligkeit nicht mehr winkt. Meistens sind wir sowieso moralisch am Schlingern, «Flexitarierinnen/Flexitarier» eben. Dante aber würde uns in die Vorhölle stecken. Die ist nämlich den Seelen jener Menschen vorbehalten, die weder entschieden genug für das Gute noch für das Böse eintraten. Die Strafe für Unentschlossene ist schrecklich. Sie bleiben unerlöst (bei Interesse nachlesen: Vestibül der Hölle, Canto II).  


* Warum ich mit Dantes Unterwelt ansatzweise «vertraut» bin? Weil ich eine Dante-begeisterte Italienischlehrerin hatte und wir Schülerinnen ganze Passagen aus der «Göttlichen Komödie» auswendig lernen mussten. (Was haben wir gelitten!).

30. Oktober 2025 – yvonne.volken@luzern60plus.ch


Zur Person
Yvonne Volken, geboren 1956, war u. a. als Buchhändlerin, Journalistin, Kulturveranstalterin und Klassenassistentin tätig. Sie kam so mit ganz unterschiedlichen Lebenswelten in Kontakt. Seit ihrer Pensionierung sammelt sie Erfahrungen als betreuende Angehörige – und neuerdings als Grossmutter.