Sicher ist nur eines: es geschieht immer das Unerwartete!

Von Judith Stamm

Diesen Satz sagte Bundesrat Ueli Maurer, als er vor einiger Zeit, noch als Verteidigungsminister, zur zukünftigen Sicherheitslage der Schweiz befragt wurde. Er verdeutlichte seine Bemerkung: Auf das Abschätzbare, das Erwartbare seien wir vorbereitet. Wir müssten aber auch die Fähigkeit entwickeln, Ereignisse und Vorkommnisse zu bewältigen, von denen wir überrascht würden, die wir so nicht erwartet hätten, die wir als unmöglich eingestuft hätten.

Erlebnisse aus meiner früheren Polizeiarbeit klangen an, als ich diese Worte hörte. Auch wir lebten damals im Bewusstsein, dass hinter uns niemand mehr stand, auf den wir zurückgreifen konnten. Wir waren diejenigen, denen etwas einfallen musste, wenn besondere, aussergewöhnliche, aus dem Rahmen fallende Geschehnisse eintraten, welche Menschen, Tiere, Umwelt, die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdeten oder beeinträchtigten.

Die Worte von Ueli Maurer kamen mir aber auch wieder in den Sinn, als ich das Resultat der Präsidentenwahl aus den USA vernahm. Mit einem Präsidenten Donald Trump hatten viele nicht gerechnet, ich auch nicht. Der Vollständigkeit halber will ich immerhin noch beifügen, dass das Wahlverfahren noch nicht zu Ende ist. Gewählt sind die Wahlmänner, wobei Donald Trump eine Mehrheit davongetragen hat. Diese Wahlmänner werden erst noch ihre Stimmen abgeben. Diese Stimmen werden nach Washington DC gebracht. Dort werden sie im nächsten Januar vor der ersten Sitzung des versammelten Kongresses eröffnet und bekannt gegeben. Und ab dem 20. Januar 2017 wird Präsident Donald Trump sein Amt ausüben, so denn in der Zwischenzeit nichts Unerwartetes geschieht.

Donald Trump war ein Kandidat eigenen Zuschnittes mit einem eigenen Stil. Natürlich schliesse ich mich all denen an, die fragen, wie es denn kommen konnte, dass genau dieser Kandidat den Sieg davontrug? Und da hängt mir eine Redewendung im Ohr, die ich schon Ende September hörte, die aktuell in den Medien wieder aufgenommen wurde. Sie lautete damals: „The press takes Trump literally, but not seriously; his supporters take him seriously, but not literally.“ Sinngemäss übersetzt heisst das: diejenigen, die ihn wörtlich nahmen, stiessen auf Ungereimtheiten, Übertreibungen, realitätsferne Aussagen und konnten sich für diese Persönlichkeit nicht erwärmen. Den anderen war es dem Anschein nach nicht so wichtig, was er sagte, sie buchten vieles, für mein Empfinden recht Vieles, als Wahlkampfrhetorik ab. Aber sie wurden angesprochen von seinem Eifer, seinem Engagement, seinen Versprechen, die mit ihren eigenen Wünschen und Gefühlen übereinstimmten, nahmen ihn deshalb ernst und stimmten für ihn. Über diese Gegenläufigkeit nachzudenken lohnt sich auch für uns, in unseren hiesigen Wahlkämpfen.

Schon vor Jahren diskutierte ich mit meinen amerikanischen Freunden während Ferienaufenthalten in den USA darüber, ob zuerst ein schwarzer Mann oder eine Frau an die Spitze des Landes gewählt werden würden. Gemeint war eine weisse Frau. Dass es auch eine schwarze Frau sein könnte, überstieg damals unser Vorstellungsvermögen. Obwohl unter feministischen Theologinnen in den USA bereits damals folgende hübsche Anekdote zirkulierte: „Moses stieg vom Berg herunter, auf dem er Gott begegnet war. Seine Umgebung fragte: „Wie ist er, wie ist Gott?“ Moses schaute die Fragenden an und sagte: „She is black“ („Sie ist schwarz“).

So denke ich, dass wir immer wieder üben müssen, uns das Unmögliche vorzustellen. Damit wir im konkreten Fall vom Unerwarteten nicht zu sehr überrascht und überrumpelt werden.
15. November 2016

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.