Mit dem Velo unterwegs: Kein reines Vergnügen

Wer glaubt, die Generation 60plus nutze das Velo allenfalls für Freizeittouren über Land, aber sicher nicht für den Alltag in der Stadt, irrt. Eine unsystematische Umfrage in meinem Bekanntenkreis hat gezeigt, dass die meisten das Velo wenn nicht täglich, so doch regelmässig benutzen. Auch wenn sie oben am Gütschhang, an der Berglistrasse oder im Wäsmeli wohnen.

Und sie fahren Velo trotzdem: Trotz der manchenorts unwirtlichen bis gefährlichen Stellen im Verkehr, trotz wiederholter prekärer Begegnungen mit vierrädrigen oder zweibeinigen Verkehrsteilnehmern. „Velofahren bin ich gewohnt, seit ich Kind war. Und bis heute ist für mich das Velo das schnellste Fortbewegungsmittel in der Stadt.“ So oder ähnlich begründen Bekannte, warum sie nicht aufs Velo verzichten, obwohl sie gleich von den Risiken berichten, denen sie sich damit aussetzen.

Von guten und weniger guten Begegnungen
Als Einstieg die Schilderung einer kurzen Fahrt vom Sälischulhaus bis zum Schwanenplatz, an einem Samstagvormittag. Die parkierten Autos rechts an der Bruchstrasse, an denen ich vorbeifahre, behalte ich gut im Auge. Heute schwenkt keines plötzlich auf die Strasse ein und schneidet mir den Weg ab, was mich bei andern Fahrten schon mehr als ein Mal zu einem heftigen Linksschwenker gezwungen hat. Diesmal tritt dafür hinter einem parkierten Kastenwagen unvermittelt ein Fussgänger auf die Strasse, Blick aufs Handy fixiert, auf dem er herumtippt, Ohren verstöpselt. Eine Vollbremsung meinerseits rettet ihn und mich vor einem harten Aufeinandertreffen.

Weiter unten steht am Fussgängerstreifen rechts eine ältere Frau. Ich bremse, aber sie winkt mich heftig mit dem Arm durch und ruft: „Sie haben es strenger, wieder anzufahren.“ Die Klosterstrasse runter Richtung Hirschengraben: Hier sind seit kurzem nebeneinander zwei rote Velostreifen aufgemalt, der eine in diese, der andere in die andere Richtung. Darauf rolle ich auf den Hirschengraben zu – und werde von einem von dort einbiegenden Auto beinahe gerammt. Hoppla.

Die nächste Teilstrecke führt über die Begegnungszone beim Theater, trotz vieler Fussgänger und regem Marktgeschehen problemlos; man achtet aufeinander. Die Seebrücke, auf dem Radstreifen zwischen zwei Autospuren, verlangt volle Aufmerksamkeit. Niesen? Besser nicht, wenn mich rechts ein VBL-Bus und links ein Lastwagen überholen. Am Ende des Schwanenplatzes auf den Velostreifen links einzubiegen, verursacht jedes Mal leichtes Bauchgrumseln. Ob die Autos hinter mir mein Winken der linken Hand wahrnehmen? Ja, gut angekommen.

Angst-Orte
Die Befragten nennen immer wieder die gleichen gefährlichen Stellen in der Stadt: Rund um den Bahnhof, die Seebrücke, der Bundesplatz. „Wenn ich vom Inseli herkommend zur Zentralstrasse will, fehlt eine Velospur, ich bin auf dem Bahnhofplatz mitten im Strom von Autos und Bussen“, sagt Hans-Peter. Und Kathrin, eine routinierte Fahrerin, vermeidet es heute, auf dem mittleren Radstreifen über die Seebrücke zu fahren, zu gefährlich.

Auch am Bundesplatz, in der Alpenstrasse und bei vielen Bushaltestellen fehlen die Velostreifen oder hören plötzlich auf. Im Hirschmattquartier, wo Velos Einbahnstrassen in der Gegenrichtung befahren dürfen (z.B. Habsburgerstrasse), führt die an sich velofreundlich gemeinte Lösung oft zu heiklen Situationen: „Diese Strassen sind grundsätzlich gefährlich, da Autofahrer oft ‚vergessen’, dass ein Velo aus der anderen Richtung kommen kann“, das weiss Margaretha aus Erfahrung. Da kann ich beipflichten. Jahrelang habe ich wie sie diese Strecke täglich befahren, und Dutzende Mal wurde mir von einem Auto aus einer nicht vortrittsberechtigten oder gar einer Stoppstrasse der Weg abgeschnitten. Oder ein mir entgegenkommender Autofahrer bedeutet mir mit fuchtelnder Faust: Was fällt dir ein, in die falsche Richtung zu fahren!

Unaufmerksam, zu nah überholt, Autotür vor der Nase
Eine Aufzählung weiterer Risiken: Die Velostreifen sind besetzt von parkierten Autos; Autofahrer sind abgelenkt vom Handy am Ohr oder wenn sie das Navi oder die Musikanlage bedienen; sie öffnen die Autotür ohne Blick nach hinten; auf der Zentralstrasse Richtung Bahnhof kommt es immer wieder vor, dass bei stehender Autokolonne, an der rechts der Velostreifen entlang führt, sich plötzlich eine Beifahrertür öffnet, weil jemand auf den Zug will; Autos fahren ganz rechts, sodass für Velos bei fehlendem Velostreifen kein Vorbeikommen ist; Velos werden mit viel zu kleinem Abstand überholt. Mit den breiter werdenden Autos und über zwei Meter breiten Offroaders, den Lastwagen und Bussen bleibt für Velos generell oft gefährlich wenig Platz, selbst auf dem Velostreifen, und auch beim Vorbeifahren an längs parkierten Autos.

„Entschuldigung“
Und wir Velofahrenden selber, sind wir immer nur unschuldige Lämmer, geplagte Opfer? Sicher nicht. Wenn man an der Stoppstrasse anhält und von einem Velofahrer ungebremst rechts überholt wird; wenn man sieht, wie Velofahrer auf einem Fussgängerstreifen um Fussgänger herum Slalom fahren; wenn wir auf dem Trottoir Menschen erschrecken …

Ich bekenne, in Ausnahmesituationen eine dieser geschmähten Velorowdys zu sein. Die letzten 50 Meter bis zum Hauseingang pflege ich manchmal auf dem Trottoir zu fahren, einem breiten, übersichtlichen Trottoir. Da kommt es vor zwei Wochen zu folgender Begegnung: Vor mir ein Fussgänger in meinem Alter, den ich mit etwas geringem Abstand langsam überhole. Er erschrickt. Verständlich. Ich steige ab und entschuldige mich bei ihm. Aber er wehrt ab: „Kein Problem.“ Als ich danach mein Velo neben der Haustür abschliesse, hat er mich eingeholt, steht still und sagt. „Wissen Sie, ich bin nur erschrocken, weil ich nicht mehr gut höre, entschuldigen Sie bitte. Ich habe doch nichts dagegen, wenn Sie so langsam fahren.“ Ich weiss nicht mehr, was ich geantwortet habe, so verblüfft war ich. Aber auf jeden Fall weiss ich seither, dass eine friedliche Koexistenz zumindest von Fussgängern und Velofahrern – selbst auf dem Trottoir – keine Utopie ist.

Marietherese Schwegler – 1. Oktober 2013