Der Flaneur ist unterwegs 12

Vom Winde verweht

Von Karl Bühlmann

Seit Wochen fällt mir der Schriftzug auf dem Schaufenster auf: KIDS at LAKE. Ich bin nicht am See, sondern in der schmalen Stadthofstrasse. Opening soon steht auch dort, Kinder respektive Kids habe ich bisher keine gesehen. Doch über Internet erfahre ich, dass es sich um Kindergarten und Kita handelt, mit „ganzheitlicher Entwicklung des Kindes unter Berücksichtigung aller Bildungsbereiche“. Damit würden die Kleinen „konsequent und kontinuierlich auf Deutsch und Englisch nach der Immersions-Methode“ und spielerisch auf den Ernst der Schule vorbereitet. Notabene von „ausschliesslich qualifizierten, passionierten und warmherzigen Mitarbeitern“. Was mit „warmherzig“ gemeint ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Von Mitarbeiterinnen steht nichts da. Schön, dass die Kleinsten und ihre Eltern noch nicht mit dem Genderwahn und Furor nach geschlechtergerechter Sprache behelligt werden.
English-Knowledge tut gut in der Stadt, die, wie der Spaziergänger bemerkt, von Anglizismen befallen ist, von Watches and Jewellery, von Nail-Studios und Beauty-Corners , von Fast Food und Take aways, von Hair and Cut Saloons. Die Kinder müssen wissen, dass in Shops für Ladies & Gents nicht Schuhe sondern Shoes, nicht Velos sondern Bikes verkauft werden. Nicht im Ausverkauf, sondern, wie an den Store-windows verheissen, Sale! Sale! Sale! Nicht Ausverkauf, nicht Billigverkauf, sondern Sale. Solche Schnäppchen sind, wie an einem Schaufenster an der Reuss zu lesen, Things that make you smile. Nicht wahr: Second hand klingt nobler, verkaufsfördender als „gebraucht“, „getragen“ oder „aus zweiter Hand“.

Die Haarschneider/innen, hierzulande Coiffeure/Coiffeusen genannt – ein Begriff, der auf die wenigen, dank Heimaturlaub die Französische Revolution überlebenden Schweizer Söldnern, denen das Löwendenkmal nicht gewidmet ist – zurück geht, geben sich viel Mühe, sprachlich  kreativ zu sein.  Da gibt es Salons wie Haarmacherei oder Haircraft oder Haarscharf oder Hairline oder Haararchitektur. An die Phantasie ihrer Kollegen in Berlin kommen sie allerdings noch nicht heran, wie der Flaneur feststellen konnte. Dort stösst man auf den Haarchirurgen und die Haararena,  die Haareszeiten, auf Haut und Haar, man findet die Haar Moni, geht zur Schnittstelle, in die Lockenvilla, zu Engelshaar und Teufelslocke. Die Filmfreunde lassen ihre Hipsterbärte wöchentlich von zu James Blond trimmen. Wer sich in den Prenzlauer Berg wagt, findet dort den Kopfgeldjäger oder Frisör Hairlich Natürlich. Luzerns Friseure/innen  – wie auch die Fasnacht – dürfen literarisch noch zulegen!

Es ist beruhigend, dass die Kids wissen, ehe sie die Schuhe binden können, dass Luzern die ursprünglich-altdeutsche Bezeichnung von Lucerne ist, unter dessen Ortsbezeichnung eben wieder das Lucerne Festival stattfindet. Erklärt den Kleinen ein warmherziger Mitarbeiter, dass das Festival früher Internationale Musikfestwochen Luzern hiess und offenbar mangels Selbstbewusstsein oder masochistischer Selbstverleugnung die Bezeichnung Luzern nicht mehr gut genug war? Sollte sich der FC Luzern (ehemals auf der Allmend zuhause) vielleicht in Football Club Lucerne  (heute in der Swisspor Arena) umtaufen? Würde er dann besser, gefürchteter, internationaler? Apropos Fussball: Die Partie fand bei warmen Wetter statt, was eine gute Ballkontrolle erschwerte. Der FC näherte sich bald dem gegnerischen Tor. Das Führungstor liess nicht lange auf sich warten. Diesen Matchbericht aus der Engadiner Zeitung, FC Celerina vs. AC Bregaglia, 3. Liga, gespielt in Vicosoprano, habe ich heimlich – mea culpa! – in  der Tennisplatz-Beiz in 7514 herausgerissen und in die Tasche zu den journalistischen Fundstücken gesteckt. Und siehe da – am vergangenen Sonntag, während des Schreibens dieses Beitrages, war die Ähnlichkeit mit dem Gebotenen des Football Clubs Lucerne gegen die Berner Young Boys zum Geschriebenen über das Engadiner Drittliga-Spiel zufällig deckungsgleich.

Endlich am See, die Rigi links, der Pilatus rechts, weiblich und männlich sortiert wie in der Kirche und im Bett. Die Zahl der Ausserirdischen, denen der Flaneur auf dem Weg zur Seebrücke begegnet, ist in den letzten Monaten merklich angestiegen. Die über den Asphalt wandelnden Aliens haben, auch bei grösster Hitze, schwarze Ohrenwärmer über den Kopf gestülpt, runde Kapseln über den Lauschern. Die Gesichter wirken müde, manchmal verträumt, die Augen-Jalousien halb heruntergezogen. Eine neue Strafe: Elektronische Ohrfessel statt elektronische Fussfessel? Ihre Träger/innen sind gehörmässig ausgeschlossen vom Geschnatter der Schwäne und auf Mandarin, von Velogeklingel, Cis-Gis-Zweiklanghorn der vorbeirasenden Ambulanz, dem Tuten der Dampfschiffe, den Dezibelwerten einer Harley Davidson, bekommen den Voraus-Stundenschlag vom Uhrturm auf Musegg nicht mit, reagieren nicht auf Hallo und Grüezi.

Noch häufiger sind die Abkömmlinge der neuen Struwelpeter-Species  „Hanns-Guck-in-die Luft“, die meist frontal auf einen zusteuern ohne die Umwelt wahrzunehmen, stur geradeaus blicken, starre Mimik im Unterkiefer. Auffällige Merkmale sind eine schwarze oder weisse Geschwulst an beiden Ohren, keine Schwellung, sondern ein längliches Ding wie ein vierkantiger-Tampon, oft noch mit Nabelschnur zum Smartphone in der Hand. Das vermeintliche Geschwür, so belehrt mich die Passantin beim Apero an der Reuss, ist ein drahtloser Kopfhörer, das sind AirPods von A. oder ein J-Talk. Wer nicht von gestern sein will, kommt ohne Full-Size-Kopfhörer - oder In Ear-Lautsprecher nicht durchs Leben. Und wer die totale Coolness verkörpern will, zieht die Ohrstecker auch im Büro, an der Bar, beim Essen oder – respektlos – selbst zum Gespräch nicht raus. Zur unangenehmsten Kategorie zählen sind die Telefonierer(innen) und Quatscher(innen), die überall, in Bus, Bahn und Pissoir, Kino, Konzertpause und vor der Kasse,  das öffentliche zwanghafte Reden nicht sein lassen können. Ist das notwendig? Macht sich der Herr einfach wichtig? Wird die Gnädige manisch-depressiv und erleidet eine bipolare Störung, wenn sie nicht in die Luft hinaus monologisieren darf? Henusode, sagt sich der Flaneur und denkt an Luthers Interpretation von 1 Korinther 14,9: Der Wind trägt die Worte dahin, ohne dass sie fruchtbar werden.

Auf dem Europaplatz stellt sich mir einer, von Format Nationalturner, Bart und Rucksack auf Mann, aber ohne AirPods in den Ohren, in den Weg. Hinweisend auf die KKL-Fassade mit dem Plakat zur Ausstellung über die Turner-Ausstellung im Kunstmuseum fragt er treuherzig: Um welchen Turner geht es? Boden- oder Geräteturner? Ich muss ihn enttäuschen: Dort ist keine Sportausstellung, dort hat es Bilder des Malers Tschouseff Mällerd William Törner, ausgeschrieben Joseph Mallord William Turner.

Danke, liebe bilingual geförderte Knirpse (Knirpsinnen eingeschlossen) von KIDS at LAKE für die Inspiration zu dieser Kolumne. Bitte übersetzt mir bald die aktualisierte zweite Strophe von Hanns Guck-in-die-Luft, der mit AirPods in den Ohren über die Trottoirkante und den Luzerner Laufhund stürchlet: Kam ein Hund daher gerannt/Hännslein blickte unverwandt/in die Luft./Niemand ruft:/Hanns! Gib acht, der Hund ist nah!/Was geschah?/Pauz! Perdauz!/Da liegen zwei!/Handy und Hännschen nebenbei.
3. September 2019

Zur Person
Karl Bühlmann (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der ‚Luzerner Neuesten Nachrichten', 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.