Alle zu Hause 

Corona im Alltag (4)

Vorrat und Verrat

Von Hans Beat Achermann

Am Radio läuft „Petite Fleur“ von den Hot Sardines, da schwingt Paris mit, wo wir zurzeit flanieren würden und logieren im Hotel de Suède. Die Reise, das Weihnachtsgeschenk von Claudia, ist schon seit drei Wochen storniert. Statt Moules et frites gab es gestern Saucisson mit Dörrbohnen und Dampfkartoffeln. Auch gut. Ohne gehamstert zu haben, ist unser Vorratsschrank gut bestückt mit Linsen, Bohnen, Couscous, Rollgerste, Polenta, verschiedenen Reis- und Pastasorten, im Keller stehen Pelatibüchsen und Passatagläser. Die Käseauswahl von Mauerhofer aus Burgdorf ist heute per Post eingetroffen, morgen kommt der Schwarze Peter von Heini per Brotpost. Dank Claudias kreativer Koch- und Planungskünste hängt bereits der Menüplan für die nächsten drei Wochen am Küchenschrank, der Weinkeller wird in Gottes Namen etwas ausgedünnt. Das lässt sich wieder beheben. Was für die nächste Zeit an Überlebensmitteln ergänzt werden muss, wird uns noch eine Freiwillige von Vicino oder Zeitgut bringen. Alles normal also?

Nein, fast alles ist anders. Sich mit 73 nur wegen des Alters plötzlich als Mitglied einer Risikogruppe  zugehörig fühlen zu müssen, macht es einem rüstigen Rentner mit leicht hypochondrischen Zügen nicht leichter. Ein kleines Stechen auf der Brust, ein Jucken in der Nase, Nackenschmerzen (vermutlich vom übergrossen Medienkonsum) – ich gebe es zu: Die überaus grosse Aufmerksamkeit nach innen löst schubweise auch diffuse Todesängste aus. Die Fernsehbilder lenken den Blick dann gottseidank wieder weg von der eigenen vergänglichen Wenigkeit nach draussen, wo wie in Lesbos unglaubliche Tragödien abgehen, die man – im Gegensatz zu Corona – hätte verhindern können und wo Menschenrechte verraten werden. Auch Solidarität ist wählerisch und ungerecht.

Es ist ein ständiges Pendeln zwischen Ohnmacht und Hoffnung, Anteilnahme und Selbstbespiegelung. Am Radio läuft jetzt tatsächlich  - und das ist nicht gefaked: „T'inquiète pas, ça va aller“ vom Florian Favre Trio. Wollen wir‘s hoffen, für alle, auch für diejenigen, die schon seit Monaten oder Jahren in unfreiwilliger und unwürdiger Quarantäne leben müssen. Das Virus kann uns die Augen öffnen, nicht nur für die eigenen Zipperlein. Allez, aber nicht nach draussen.

27. März 2020