In Reussbühl aufgewachsen, blicken die drei Geschwister (v. l.) Maria Koller, Hans Koller-Bühlmann und Martha Meyerhans-Koller auf ihr langes Leben zurück.

Wach und zufrieden im hohen Alter

Im Luzerner Stadtteil Reussbühl leben zwei von drei dort aufgewachsenen Geschwistern, die alle über 90 sind. Das hätten sie unter anderem guten Genen, dem einfachen Leben, sinnvoller Arbeit und allgemeiner Zufriedenheit zu verdanken.

Monika Fischer (Text und Bild)

«Ich bin nicht mehr up-to-date», sagt Hans Koller (96), der wahrscheinlich älteste Reussbühler, der bis heute am Geburtsort lebt. Bekannt durch seine Geselligkeit, seinen Witz und Humor hält er es mit dem antiken Philosophen Sokrates: «Je mehr ich weiss, weiss ich, dass ich nichts weiss.» Aufgewachsen ist er mit drei Schwestern im «Helgenzöpfli», dem markanten Haus neben der Reussbühler Kirchentreppe (die älteste Schwester Trudi Albisser-Koller starb bereits mit 61 Jahren). 45 Franken inklusive einem Franken für Vaseline kostete damals die Heimgeburt plus Wochenbettpflege. Martha und Hans haben die Quittung aufbewahrt.

Da es damals in Reussbühl noch keine dritte Sekundarklasse gab, durfte Hans diese mit zwei Kollegen in Gerliswil besuchen, was den Schwestern versagt blieb. Diese absolvierten nach der Schulzeit ein Welschlandjahr in Lausanne in einem Alters- und Erholungsheim, wo sie am Vormittag für die Hausarbeiten eingesetzt wurden. Am Nachmittag lernten sie Französisch und allerlei Nützliches für den Lebensalltag.

«365 Tage, ohne die Eltern zu sehen, unter ständiger Aufsicht von Klosterfrauen, und das mit vierzehneinhalb Jahren! Ich hatte oft längi Zyt», erinnert sich Martha (92). Ein zweites Jahr verbrachte sie wie ihre Schwester Maria in der Westschweiz in einer Familie. Danach besuchten beide eine Handelsschule in Luzern. Dank dieser Ausbildung konnten sie später ebenso wie Bruder Hans den Vater bei der Arbeit als Sektionschef unterstützen. Der Zusatzverdienst war willkommen, war doch der Lohn als Obermeister in der Schappespinnerei zuerst in Reussbühl, später in Kriens, sehr bescheiden.

Von der Haustür zu Fuss auf den Pilatus und zurück
Die Geschwister erzählen, wie sie in ihrer Jugend für ihren Wohnort drei Bezeichnungen brauchten: wohnhaft in Reussbühl, Gemeinde Littau, Post Emmenbrücke. «Und heute sind wir ein Ortsteil der Stadt Luzern, wobei wir uns eher wie das fünfte Rad am Wagen fühlen», lachen sie. Sie berichten von ihrem einfachen Leben und der doch glücklichen Jugendzeit, wie sie zum Beispiel frühmorgens von der Haustüre auf den Pilatus und wieder zurückgewandert sind und dazwischen in der Klimsenkapelle den Gottesdienst besucht hatten.

Hans, der begeisterte Skitourenfahrer und Bergsteiger, nahm seine Schwestern zwar nicht mit aufs Matterhorn, wohl aber zu weiteren Touren in den Innerschweizer Bergen. «Beim Aufstieg auf den Glattigrat nahm ich sie kurz vor dem Ziel an die Hand, und sie mussten die Augen schliessen. Oben angekommen durften sie diese öffnen – und bestaunten das prächtige Bergpanorama.» 

Wandelndes Lexikon
Hans Koller kam nach verschiedenen kürzeren Arbeitsstellen 1948 zur Firma Herzog Elmiger AG, wo er den ganzen Betrieb modernisierte und in über 44 Jahren an demselben Arbeitsort bis zum Vizedirektor aufstieg. 1959 heiratete er Marily Bühlmann, wurde Vater von drei Töchtern und einem Sohn und war neben Beruf und Familie vielseitig engagiert: Kommandant der Feuerwehr, Präsident der Schützengesellschaft, Präsident des Aufsichtsrats der Raiffeisenbank, Kirchenratsschreiber, zwölf Jahre Einwohnerrat Reussbühl-Littau (1977/78 als Präsident während der 800-Jahr-Feier) und vieles mehr.

«Als Mitglied der Finanzkommission konnte ich durch die Einführung eines neuen Rechnungssystems einiges bewirken», stellt er mit Genugtuung fest und erzählt, wie er als Mitglied der Planungskommission dem Pflegeheim Viva Luzern Staffelnhof zu seinem Namen verholfen hatte. Dank seinem Interesse an Lokalgeschichte wusste er, dass dieses auf Grund und Boden der ehemaligen Liegenschaft Staffeln erbaut wurde. Bis heute gilt er als wandelndes Lexion. «Mit Hans wird sehr viel Wissen über die Geschichte von Littau/Reussbühl verlorengehen», sagen nicht nur seine Schwestern.

Engagierte Sozialarbeiterin
Vielseitig engagiert waren stets auch die beiden Schwestern auf unterschiedlichen Lebenswegen. Bei ihrer ersten Stelle bei der Krankenkasse Concordia war Maria Koller (94) an der Einführung des Lochkartensystems beteiligt und arbeitete danach neun Jahre in der Buchhaltung. Im Wissen, dass sie nicht heiraten wollte, besuchte sie die sozial-karitative Frauenschule Luzern (heute Hochschule für Soziale Arbeit).

Nach ihrer ersten Stelle als Sozialarbeiterin beim Seraphischen Liebeswerk St. Gallen wechselte sie an die Vormundschaft der Stadt Luzern (heute KESB). «Die verantwortungsvolle Aufgabe wurde allmählich zur Belastung», erklärt sie den Wechsel nach 13 Jahren zum Hilfsverein für Psychischkranke (heute traversa), wo viele Menschen mit psychischen Krankheiten ihre Hilfe in Anspruch nahmen. Während ihrer siebenjährigen Tätigkeit als Einwohnerrätin machte sie unter anderem eine Eingabe für betreutes Wohnen in Littau.

Begeisterte Bäuerin und Familienfrau
Martha Meyerhans-Koller arbeitete nach Abschluss der Handelsschule in einem Elektrofachgeschäft, wo ihr die selbständige Arbeit sehr gefiel. Nach ihrer Heirat 1961 mit Kaspar Meyerhans wurde sie dreifache Mutter und war zwölf Jahre begeisterte Familienfrau und Bäuerin auf einem Pachtbetrieb in Emmen. Noch heute zehrt sie von den Erlebnissen in Haus, Feld und Stall und von ihren Tätigkeiten als Lehrmeisterin und Expertin. Das Rüstzeug dazu hatte sie in der Bäuerinnenschule Sursee geholt.

Als Mitglied der Luzerner Landeskirche und im Vorstand des Katholischen Frauenbundes Emmen setzte auch sie sich für die Gesellschaft ein. Die Auswanderung von Sohn Thomas 1988 nach Kanada war ein markanter Einschnitt im Familienleben. Die rund 20 Besuche auf dem grossen Landwirtschaftsbetrieb, der letzte vor fünf Jahren, verschafften ihr unvergessliche Erlebnisse. «Bei jeder Taufe der vier Enkelkinder durfte ich mit meinem Mann dabei sein», freut sie sich rückblickend.

Eine besondere Herausforderung war für sie die Parkinson-Krankheit ihres Mannes Kaspar, den sie 13 Jahre bis zu seinem Tod 2010 zuhause pflegte. «Diese Zeit bedeutete für uns beide viel Verzicht, ermöglichte aber auch eine Neufindung», zeigt Martha auf und erzählt, wie sie mit 61 noch beim Amt für Statistik Luzern einen 50-Prozent-Job übernommen hatte. Beim Aufarbeiten der letzten Volkszählung 1990 für acht Kantone machte sie erste Erfahrungen mit dem PC und arbeitete danach weitere sieben Jahre als Aushilfe auf dem Pfarramt Emmen.  

Täglich auf den Beinen
Zwar hatten alle drei Geschwister zum Teil schwerwiegende gesundheitliche Probleme und Operationen, von denen sie sich indessen gut erholt haben. Hans Koller, verwitwet seit 2014, wohnt nach wie vor selbständig in seinem Haus auf der «Heiterweid». Unterstützt wird er von einer Putzfrau, dem Sohn und den Töchtern. «Ich habe alles, was ich brauche. Den Garten besorge ich halt eher extensiv statt intensiv und bin täglich auf den Beinen», hält er fest und trägt zu seiner Sicherheit einen Rotkreuz-Alarmknopf. Es beschäftigt ihn, dass mehr und mehr Menschen aus seinem grossen Bekanntenkreis wegsterben.

Maria Koller wohnte zeitlebens bei den Eltern und zog nach dem Tod des Vaters mit der Mutter vom «Helgenzöpfli» in eine Wohnung in der Eichenstrasse. Neben ihrem Vollzeitjob betreute sie die Mutter bis zu deren Tod im Jahr 1982. Nach der Pensionierung 1991 hütete sie gerne ihre Grossnichten und -neffen, und sonntags chauffierte sie oft drei Kolleginnen irgendwohin zum Mittagessen und Jassen.

Weit übers Pensionsalter hinaus sang sie in verschiedenen Chören, war neun Jahre Stellvertreterin der Pfarrhausfrau und leitete eine Begleitgruppe für alleinlebende und behinderte Menschen. 2019 wurde sie als Gründungsmitglied für ihr langes Engagement im Vorstand der Senioren-Drehscheibe Reussbühl-Littau geehrt, eine Institution, die Bruder Hans Koller gemäss Website «beharrlich auf­gebaut, zielgerichtet geführt und durch unzäh­lige Aktivitäten positioniert hatte».

Nach fünf Operationen am Rücken und beiden Hüften war sie mit einem Stock bis am 20. Januar 2019 selbständig unterwegs. «Nachts stürzte ich zwischen Schrank und Bett, brach eine Hand und konnte nicht mehr aufstehen.» Sie schildert, wie sie drei Tage und zwei Nächte hilflos am Boden lag. Niemand hörte ihre Hilfeschreie, bis die Schwester sie abholen wollte. Als sie im Spital lag, wurde ihre Wohnung wegen eines Wasserschadens im Haus nicht mehr bewohnbar. Deshalb lebt sie seither im Staffelnhof mit Blick auf ihre frühere Wohnung. «Es geht mir gut, und doch bin ich hier nicht richtig daheim», sagt sie, die sich die Zeit gerne mit dem Lösen von Kreuzworträtseln vertreibt.

Martha Meyerhans-Koller wohnt selbständig in ihrer Wohnung in Emmenbrücke in der Nähe der Tochter. Wie eh und je verwöhnt sie ihre Familie und Freunde als grosszügige Gastgeberin.

Dankbar für ein langes Leben in Sicherheit und Frieden
Die drei Geschwister berichten von der enormen Entwicklung in allen Belangen seit dem Zweiten Weltkrieg, den sie als Kinder miterlebt hatten: «Die Welt hat sich mit zunehmendem Wohlstand mit seinen positiven und negativen Seiten in jeder Beziehung verändert, manches kippte von einem Extrem ins andere.» Sie lesen täglich Zeitung und bedauern, dass sie die digitale Entwicklung verpasst haben: «Auf das Alter wird keine Rücksicht genommen, wurden wir doch durch die modernen Medien abgehängt. Der Fortschritt geht an uns Alten vorbei.» Sie möchten jedoch nicht jammern und sind zufrieden und dankbar für ihr langes Leben in Sicherheit und Frieden. «Manchmal denke ich wohl, dass ich mit besseren Bildungsmöglichkeiten mehr hätte erreichen können», sagt Hans Koller nachdenklich.

Als mögliche Gründe für ihr langes Leben nennen sie übereinstimmend die guten Gene, das einfache und naturnahe Leben, eine sinnvolle Arbeit, Zufriedenheit und das Geschenk einer guten Gesundheit. Für Martha sind die Diskussionen in der Familie mit den Enkelkindern ein eigentlicher Jungbrunnen. 

Auch im hohen Alter leben alle drei weiterhin gerne und hoffen, möglichst selbständig bleiben zu können. Und doch machen sie sich auch Gedanken über die Endlichkeit. Martha redet viel mit ihrer Familie darüber. Maria macht sich hie und da Gedanken, wie das Lebensende wohl sein werde. Hans, der Älteste, fragt sich manchmal, wie lange es noch gehen werde und hält fest: «Ich habe für meine Nachkommen alles Nötige für den Todesfall aufgeschrieben. Einzig das Menu bei meiner Beerdigung habe ich noch nicht festgelegt.»

16. Dezember 2023 – monika.fischer@luzern60plus.ch