Der Begriff „Altersfreitod“ ist problematisch

Von Beat Bühlmann

Im letzten Jahr hat Exit 583 Mitgliedern beim selbstbestimmten Sterben geholfen. Das war ein Viertel mehr als im Vorjahr, das Durchschnittsalter lag bei 77,5 Jahren. Für besonders viel Aufsehen sorgte der markante Mitgliederzuwachs: 13 500 Personen sind letztes Jahr der Sterbehilfeorganisation beigetreten, das waren 70 Prozent mehr Neuanmeldungen als im Vorjahr. In Spitzenzeiten meldeten sich pro Tag bis zu 200 Personen bei Exit an; inzwischen zählt die Organisation über 80 000 Mitglieder.

Geht nichts über das selbstbestimmte Sterben? Exit selber führt das Rekordwachstum auf die häufige Medienberichterstattung zurück. So ging der Glarner SVP-Ständerat This Jenny mit Hilfe von Exit in den Tod und sorgte damit für viele Schlagzeilen. Selbst beim Kinopublikum ist mit „Usfahrt Oerlike“ das ernste Thema im Hauptprogamm angekommen. An den Solothurner Filmtagen gewann der Film mit Hansjörg Schneider in der Hauptrolle den Publikumspreis.

Auch in kirchlichen Kreisen ist der begleitete Suizid kein Tabu mehr. Sollte er Zeichen von Demenz spüren, werde er in die Schweiz zu einer Sterbehilfeorganisation reisen, schreibt der Theologe Hans Küng in seinem Buch „Glücklich sterben?“. Und in einer repräsentativen Umfrage des evangelischen Kirchenblatts „Reformiert“ waren 77 Prozent der Befragten der Meinung, dass auch das Sterben ausschliesslich in der Verantwortung des Einzelnen liege. Eine satte Mehrheit von 68 Prozent sprach sich auch für eine erleichterte Sterbehilfe für Betagte, den sogenannten „Altersfreitod“ aus, wie in Exit seit einem Jahr neu in den Statuten vorsieht.

Erleichterter Zugang für Sterbemedikament

Sterbehilfe leistet Exit bislang bei hoffnungsloser Prognose, bei unerträglichen Beschwerden  und bei unzumutbarer Behinderung. Neu engagiert sich Exit gemäss Artikel 2 der Statuten „für den Altersfreitod und und setzt sich dafür ein, dass betagte Menschen einen erleichterten Zugang zum Sterbemittel haben sollen“. Noch liegt kein konkreter Gesetzesantrag vor, doch kurz gefasst meint Exit mit Altersfreitod „das legitime Bedürfnis von Betagten – die zwar nicht todkrank sind, durch eine Vielzahl von Gebrechen jedoch in einem die Lebensqualität stark einschränkenden Leidenszustand –, nicht nur aus rein körperlich-medizinischen Gründen mit dem Schlafmittel NaP selbstbestimmt zu sterben». (Info 3/14). Das würde also bedeuten, dass ein Hochbetagter weniger medizinische Abklärungen über sich ergehen lassen muss und weniger gravierende Leiden nachzuweisen hat, als ein noch jüngerer Patient dies tun muss, um das Sterbemittel ärztlich verschrieben zu erhalten. Die Frage stellt sich, ob ein solcher „Freipass“ den sozialen Druck auf Betagte verstärken und zu einem altersfeindlichen Gesellschaftsklima beitragen könnte.

Warum wollen alte Menschen dem eigenen Leben ein Ende setzen? Es ist oft die Angst vor Abhängigkeit, vor Kontrollverlust (Demenzerkrankung) oder vor Schmerzen.  Sie wollen sich nicht einer hochtechnisierten Medizin ausliefern, wollen der Gesellschaft hohe Pflegekosten ersparen und sehen keinen Sinn mehr in ihrem Leben. „Nicht selten basieren diese Ängste und Befürchtungen auf einem einseitig negativen Altersbild, welches ausschliesslich von würdelosem Leiden und Abhängigkeit geprägt ist“, heisst es in einem aktuellen Positionspapier der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie (SGG), der Fachgesellschaft für Geriatrie und der Gesellschaft für Alterspsychiatrie und –psychotherapie. In einer an Nutzen, Erfolg und Leistungen orientierten Gesellschaft falle es vielen Menschen besonders schwer, körperliche Einschränkungen oder den Verlust von Freunden zu akzeptieren.  

Das Recht auf Selbstbestimmung sei immer und unbedingt zu respektieren, auch am Lebensende. Doch der von Exit eingeführte Begriff „Altersfreitod“ sei problematisch, kritisieren die Gerontologinnen und Psychotherapeuten. Treffender sei „Suizidbeihilfe für alte Menschen“. Statt einfach lebensmüden alten Menschen den Zugriff auf das Sterbemittel zu erleichtern, müsse nach den Ursachen des Suizidwunsches gefragt und die Prävention verstärkt werden. Sind es Verzweiflung und Einsamkeit? Ist es fehlende medizinische und therapeutische Hilfe bei einer psychischen oder körperlichen Krankheit? Oder wollen Hochbetagte unter dem Druck negativer gesellschaftlicher Werturteile dem eigenen Leben ein Ende setzen? „Auch angesichts von Verlust, Krankheit und Endlichkeit sollten alte Menschen schwierige Lebenssituationen angstfrei und mit bestmöglicher Versorgung erleben können“, fordern die Fachverbände in einem Positionspapier zur Suizidbeihilfe.

Das selbstbestimmte Sterben

Ohnehin bedeutet selbstbestimmtes Sterben keineswegs nur Beihilfe zum Suizid. Nach wie vor ist viel zu wenig bekannt, was Palliative Care am Lebensende vermag, wie etwa der Lausanner Palliativmediziner Gian Domenico Borasio in seinen höchst lesenswerten Büchern festhält (siehe Literaturliste). Es greife viel zu kurz, beim selbstbestimmten Sterben nur von Sterbehilfe zu reden, sagt auch der Zürcher Palliativmediziner Roland Kunz. Heute könne man über 90 Prozent der Menschen, die an einer nicht mehr heilbaren Krankheit leiden, die Schmerzen wirksam und ohne grosse Bewusstseinstrübungen nehmen. Mit der vom Bund lancierten nationalen Strategie für Palliative Care ist in den letzten Jahren einiges in Bewegung geraten, auch wenn das Angebot noch längst nicht ausreichend ist. Immerhin gibt es auch in Luzern, etwa im Betagtenzentrum Eichhof, eine eigene Abteilung für Palliativ Care (mit sieben Betten), und die Spitex Luzern bietet mit dem Brückendienst eine ambulante Palliativbehandlung an. Zudem führt der Verein Palliativ Luzern eine Informations- und Beratungsstelle in der Stadt Luzern.

Wann ist es Zeit zu sterben?

Die zweite Veranstaltung in der Reihe „Lebensreise – Abschied nehmen und aufbrechen“ vom 30. Mai 2015 im RomeroHaus in Luzern (13.30 Uhr) thematisiert das selbstbestimmte Sterben. Wann ist es Zeit zu sterben? Auf diese Frage versucht die Ökonomin und Theologin Nina Streeck, Redaktorin der NZZ am Sonntag, in einem ersten Referat zu antworten. Danach wird Georg Bosshard, Leitender Arzt der Klinik Geriatrie des Universitätsspitals Zürich, die Entscheidungen am Lebensende aus ärztlicher Sicht aufgreifen. Und zum Abschluss ist der Dokumentarfilm „Besser sterben – Was man alles darf, wenn man nichts mehr kann“ von Marianne Pletscher zu sehen. Die Impulsveranstaltung ist eine Initiative des Projekts „Altern in Luzern“ und wird in Kooperation mit dem RomeroHaus durchgeführt. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung ist nicht nötig. - 20.5.2015
Das Programm

Bücher zum Thema:
Hans Küng: Glücklich sterben? Piper München 2014, 159 Seiten.

Hans Wehrli, Bernhard Sutter, Peter Kaufmann: Der organisierte Tod. Sterbehilfe und Selbstbestimmung am Lebensende – Pro und Contra. Orell Füssli, Zürich 2012, 224 S.

Gian Domenico Borasio: Selbst bestimmt sterben. C.H.Beck, München 2014, 206 S.

Gian Domenco Borasio: Über das Sterben. C.H.Beck München 2013 (11. Aufl.), 208 S.