Im November 2021 hat das Volk die Pflegeinitiative angenommen. Was heisst das für die Alterspflege? Bild (bei der Einreichung der Initiative): Peter Schäublin 

«Genug und gut ausgebildetes Pflegepersonal ist zentral für die Qualität»

Die Pflegeinitiative wurde im November 2021 angenommen. Wie geht es nun weiter? Wie wirkt sich die Umsetzung auf den Altersbereich aus? Ein Gespräch mit Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK.

Interview: Delphine Roulet Schwab und Barbla Rüegg, GERONTOLOGIE CH* 

Was sind die Kernforderungen der Pflegeinitiative und wie sollen sie umgesetzt werden?
Yvonne Ribi: Auslöser für die Initiative war ein Pflegenotstand in allen Bereichen. Die Kernforderungen sind somit einerseits mehr Pflegende auszubilden, und andererseits die Arbeitsbedingungen so zu verbessern, dass die Pflegenden im Beruf bleiben. Dafür sind zwingend eine bessere Personaldotation und eine höhere Anerkennung der Pflegeberufe nötig, indem man ihnen endlich mehr Autonomie zugesteht. Gemäss Bundesrat geht es bei der Umsetzung der Ausbildungsoffensive nun sehr schnell vorwärts: Das bereits ausgearbeitete Paket des indirekten Gegenvorschlags kommt im Sommer ins Parlament. Die Umsetzung der anderen Inhalte – Arbeitsbedingungen, Personaldotation, Pflegefinanzierungsthemen – dauert länger, weil es dort noch viel Vorarbeit braucht.


«Für die Qualität der Pflege ist es wichtig, dass es nebst besseren Arbeitsbedingungen auch eine Personaldotation braucht, die sich am Bedarf der zu pflegenden Menschen orientiert.»

Yvonne Ribi, SBK-Geschäftsführerin


Inwiefern wirken sich diese Forderungen auf die Qualität der Pflege älterer Menschen aus? 
Die Umsetzung der Pflegeinitiative betrifft alle Versorgungsbereiche und somit auch die Langzeitpflege. Für die Qualität der Pflege ist es wichtig, dass es nebst besseren Arbeitsbedingungen auch eine Personaldotation braucht, die sich am Bedarf der zu pflegenden Menschen orientiert, eine sogenannte «Nurse to Patient Ratio». In den Spitälern haben Analysen beispielsweise gezeigt, dass die Komplikationen abnehmen und die Sterblichkeit im Akutbereich tiefer ist, wenn 80 Prozent der Pflegeleistungen durch diplomiertes Personal erbracht werden. Genug und gut ausgebildetes Pflegepersonal ist für die Qualität der Pflege zentral, das gilt auch für die Langzeitpflege.

Welche Bereiche der Alterspflege werden von der Umsetzung der Initiative besonders betroffen sein und wie? 
Sämtliche Bereiche der Pflege müssen wie erwähnt attraktiver und mit einer besseren Personaldotation ausgestattet werden. Auch die Aufwertung der Pflege im Krankenversicherungsgesetz als eigenverantwortlicher Leistungserbringer ist ein wichtiger Schritt. Von den Abläufen her wird sich für die Spitex durch diese grössere Autonomie sicher am meisten verändern.

Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Herausforderungen im Zusammenhang mit der Pflege älterer Menschen in den nächsten fünf bis zehn Jahren?
Gerade für ältere Menschen ist eine flächendeckende Gesundheitsversorgung ganz wichtig: Nicht nur in Städten, sondern auch in Randregionen braucht es die nötigen Strukturen. Dies ist aus gesellschaftlicher, fachlicher und auch finanzieller Sicht eine grosse Herausforderung. Das Thema Demenz wird weiter an Bedeutung gewinnen – auch von den Strukturen her, die es braucht, um Menschen mit Demenz eine gute, behütete Infrastruktur zu bieten. Die Frage ist dabei immer, was der richtige Weg ist. Kürzlich hörte ich im Radio, im Berner Oberland sei ein Demenzdorf eröffnet worden – sicher eine tolle Sache. Im selben Beitrag wurde aber auch erwähnt, man ginge heute eigentlich eher den Weg der Inklusion. Mit solchen Fragen müssen wir uns als Gesellschaft auseinandersetzen.

Welche Umsetzungsschritte sind für die Pflegefachpersonen heute am dringendsten?
Wenn wir unsere Leute fragen «Was braucht ihr?», sagen die meisten «Mehr Zeit für die Pflege der Patientinnen und Patienten». Wenn sie diese nicht haben, können sie nicht so pflegen, wie sie es gelernt haben und es aus fachlicher Sicht nötig ist. Das bedeutet, dass sie heimgehen und unzufrieden sind, sich ausgebrannt und gestresst fühlen und in einen moralischen Konflikt kommen. Wenn dieser länger besteht, steigen sie aus dem Beruf aus. Bis die Ausbildungsoffensive greift, steht mehr Zeit leider in den meisten Fällen kaum zur Verfügung. Umso wichtiger ist eine gute Personalplanung und gelebte Wertschätzung: über die Führung, über das Involvement und auch über finanzielle Vergütungen, seien dies höhere Löhne oder Zulagen, Zeitgutschriften oder Ferien. Einige Betriebe setzen auch die Reduktion der Wochenarbeitszeit um, was ein guter erster Schritt ist, um das Personal zu halten.

Möchten Sie etwas ergänzen? Gibt es etwas Wichtiges, was wir noch nicht angesprochen haben? 
Nebst gesetzlichen Anpassungen kommt der Betriebs- und Personalführung eine wichtige Rolle zu: Dass man als CEO oder als Heimleitung die Pflege nicht nur als Produktionsfaktor ansieht, sondern als Kernprozess ernst nimmt, die Pflegenden einbezieht und mitentscheiden lässt. Vertreterinnen und Vertreter der Pflege gehören in die strategischen und operativen Führungsorgane der Betriebe. Und Teams und Institutionen funktionieren am besten, wenn die Pflegenden weitgehende Mitwirkungsrechte erhalten – auch bei Entscheiden, bei denen es um Personal geht und die Verwendung der Ressourcen. Da haben wir noch einen grossen Nachholbedarf.

5. Juli 2022

*Dieses Interview erschien zuerst in der Fachzeitschrift GERONTOLOGIE CH, 2/2022. Das aktuelle Heft behandelt als Schwerpunktthema die Pflege älterer Menschen. www.gerontologie.ch