Gute Betreuung im Alter hat viele Facetten.

«Gute Betreuung gehört zum Service public»


Gute Pflege allein genügt nicht, um älteren Personen ein selbstbestimmtes Leben und soziale Teilhabe zu ermöglichen. Die Coronakrise verdeutlicht dies auf schmerzliche Weise. Der «Wegweiser für gute Betreuung im Alter» will Abhilfe schaffen.

Von Beat Bühlmann
Sechs namhafte Stiftungen haben die Fachhochschule Nordwestschweiz beauftragt, den Begriff «Betreuung im Alter» zu klären und künftige Handlungsfelder aufzuzeigen. Die aktuelle Situation veranschauliche in aller Deutlichkeit, dass die Betreuung älterer Menschen grosse Lücken aufweise. Zum einen fehle es an spezifischen Betreuungsangeboten, zum anderen seien weder die Qualitätsstandards noch die Finanzierung der Angebote definiert. Die Fokussierung auf die medizinisch ausgerichtete Pflege greife zu kurz, wie sich zum Beispiel bei Menschen mit Parkinson oder Demenz zeige. «Ohne intensive Betreuung ist es für sie schwierig, den Alltag zu bewältigen; auf eigentliche Pflege sind viele aber nicht angewiesen.»

Was macht denn gute Betreuung im Alter aus? Betreuung im Alter, so lassen sich die Erkenntnisse zusammenfassen, unterstützt ältere Menschen ihren Alltag selbständig zu gestalten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, wenn sie das aufgrund ihrer Lebenssituation nicht mehr selbständig tun können. Gute Betreuung richtet sich konsequent an den Bedürfnissen der betagten Person aus und behält neben dem körperlichen auch das psychosoziale Wohlbefinden im Blick. Betreuung im Alter, so eine weitere Erkenntnis, lässt sich nicht in einem abschliessenden Leistungskatalog definieren. Sie umfasst eine Vielzahl von Aktivitäten, die sich mit den sechs Handlungsfelder Selbstsorge, Alltagsgestaltung, Haushaltsführung, soziale Teilhabe, Pflege und Beratungskoordination umschreiben lässt.

Gute Betreuung braucht Zeit
«Wir müssen den Begriff der Betreuung ausweiten und insbesondere die psychosozialen Aspekte stärker berücksichtigen», sagt der Sozialwissenschaftler Carlo Knöpfel, einer der Autoren der Studie. Gute Betreuung könne dem Gefühl der Einsamkeit, Langeweile und Nutzlosigkeit entgegenwirken. Es gehe nicht um einen bestimmten Leistungskatalog, den man einfach abrufen und verrechnen könne, sondern um Selbstbestimmung und individuelle Bedürfnisse, die zu klären seien. «Das setzt eine sorgende Beziehung voraus und dafür muss man sich Zeit nehmen», sagt Carlo Knöpfel. «Damit alle Menschen in Würde altern können, braucht die Betreuung einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert», heisst es in der Publikation. Auch in den eigenen vier Wänden dürfe sie nicht Privatsache bleiben, um die sich die Angehörigen zu kümmern hätten. «Wir postulieren ein Anrecht auf gute Betreuung», sagt Knöpfel, «sie muss zum Service public des Sozialwesens gehören.»

Heute könnten sich viele Betagte zusätzliche Betreuungsangebote gar nicht leisten, stellt der Sozialwissenschaftler fest, «zumal längst nicht alle auf die Unterstützung von Angehörigen zählen können.» Immer mehr ältere Personen haben keine Kinder oder die Kinder lebten in zu grosser Distanz zu ihnen. Zudem fehlten im Alter oft die sozialen Netzwerke, um die nötige Unterstützung im Alltag zu organisieren. Der «Wegweiser für gute Betreuung im Alter» versucht in sieben Leitlinien aufzuzeigen, welche Anforderungen in unterschiedlichen Betreuungssituationen zu erfüllen sind, damit ältere Menschen trotz Einschränkungen möglichst lange selbstbestimmt ihren Alltag gestalten können.

Betreuungsgutscheine für Angehörige
Die sechs Stiftungen wollen mit ihrer Publikation neue Wege für gute Betreuung im Alter eröffnen. Wichtige Erkenntnisse sind: Die künstliche Trennung von Betreuung und Pflege ist nicht zielführend, nötig ist eine fliessende Gestaltung von stationären und ambulanten Angeboten. Gute Betreuung lässt sich nicht in ein vorgegebenes Zeitkorsett einbinden, es braucht ein Zusammenspiel von formellen und informellen Akteuren. Schliesslich muss die Betreuungsarbeit stärker anerkannt werden, wie Carlo Knöpfel zu bedenken gibt, etwa durch Betreuungsgutschriften für Angehörige und Freiwillige, die ihnen nicht nur in der AHV, sondern auch in der Zweiten Säule der Altersvorsorge gutgeschrieben würden.
Ob die Politik mitmacht, wird sich zeigen. Immerhin ist 2019 in beiden Räten eine Motion angenommen worden, die neu Ergänzungsleistungen für betreutes Wohnen verlangt, damit «Heimeintritte für betagte Menschen verzögert oder vermieden werden können». Auch das Pilotprojekt der Stadt Luzern, das Gutscheine für selbstbestimmtes Wohnen ausrichtet, zielt in die gleiche Richtung. Sozialwissenschaftler Carlo Knöpfel hofft, dass es nun vorwärtsgeht. «Corona müsste eigentlich ein Augenöffner für die Politik sein.»

Live-Talk über gute Betreuung im Alter
Am Donnerstag, 4. Juni, 4. Juni 2020, findet von 13.30 bis 14.30 Uhr ein Live-Talk zur guten Betreuung im Alter statt, zu der sich alle über https://zoom.us/j/95355500619 zuschalten können. Am Gespräch nehmen Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz, Riccardo Pardini, Soziologe Fachhochschule Nordwestschweiz, Thomas Heiniger, Präsident Spitex Schweiz und Schweizerisches Rotes Kreuz, Daniel Höchli, Direktor Curaviva Schweiz, sowie Ursula Jarvis, Sozialdiakonin, Leiterin einer Angehörigengruppe und betreuende Angehörige teil. – 29.5.2020
beat.buehlmann@luzern60plus.ch

Wegweiser für die Betreuung im Alter
www.gute-betreuung-im-alter.ch