Von der Lust, freiwillig tätig zu sein

Von Beat Bühlmann

Seit gut einem Jahr bekomme ich die AHV und die Rente meiner Pensionskasse. Das ist höchst komfortabel - fast wie ein bedingungsloses Grundeinkommen. Alles was ich tue, tue ich jetzt freiwillig. Oder sagen wir lieber: fast alles. Denn natürlich habe ich häusliche Pflichten  zu erledigen (das Glas entsorgen, das Altpapier schnüren, den Keller räumen!), soziale Beziehungen zu pflegen (wieder mal den Journalisten-Stamm besuchen!), das Chirotraining - zweimal die Woche! - nicht vernachlässigen. Nicht zu vergessen die Ornithologie, die mich als Spätberufener auch noch gepackt hat...

Und zu alldem die richtige Freiwilligenarbeit. Diese Woche etwa eine Vollversammlung des Forums Luzern60plus oder eine Sitzung der Redaktionsgruppe für die Webseite Luzern60plus. So schlimm wie es vielleicht tönt, ist das keineswegs! Aber es zeigt, dass Freiwilligenarbeit in heftiger Konkurrenz steht zu vielen anderen Aktivitäten der Babyboomer- vor allem wenn dazu auch noch Familien- und Berufspflichten zu erledigen sind. 

Jedenfalls ist es Ihnen hoch anzurechnen, wenn Sie sich für das anspruchsvolle,  unbezahlte Engagement in der Asyl- und Flüchtlingsbetreuung verpflichtet haben. So stellt sich die Frage: Warum arbeiten Frauen und Männer gratis - in einer Zeit, wo Millionensaläre, Boni, Anlagevermögen und börsenkotierte Aktien so hoch im Kurs sind? Freiwillig arbeiten - wer tut sich das an? Und warum?

Mit anderen etwas bewegen
Ich habe während vier Jahren, von 2012 bis 2016, in der Stadt Luzern das Projekt "Altern in Luzern" geleitet. Gegen 200 Frauen und Männer der Generation 60plus haben sich in dieser Zeit freiwillig engagiert, oft während Monaten. Sie machten bei Rundgängen  im Quartier mit. Sie richteten einen  Generationenpark ein und organisierten das Quartierfest. Sie stellen sich als Lesementorinnen zur Verfügung. Sie führten und führen regelmässig das Erzählcafe im Pfarreiheim durch. Sie organisieren seit fünf Jahren den Marktplatz 60plus in der Kornschütte, gärtnern mit  Kindern, betreiben ehrenamtlich eine Webseite. Alle schreiben gratis - Judith Stamm oder Cécile Bühlmann zum Beispiel regelmässig eine Kolumne. Da muss man sich hinsetzen und ein paar Stunden dran geben.

Was motiviert zur Freiwilligenarbeit? Früher taten sie es für  "Gottes Lohn". Heute, da nicht mehr alle ans Himmelreich glauben, tun wir es nicht mehr so selbstlos. Und dennoch: Wir wollen anderen Menschen konkret helfen, etwas Nützliches tun, die Welt etwas besser machen. Aber auch: Neues erfahren, Neues lernen, mitgestalten, unsere Kompetenzen einbringen. Das zivilgesellschaftliche Engagement schafft soziale Kontakte, ermöglicht Begegnungen  - auch mit anderen "Welten". Davon muss ich Ihnen nichts erzählen.

Die Lesementorinnen zum Beispiel - es sind inzwischen in der Stadt Luzern über 40 - nehmen sich jede Woche 45 Minuten Zeit, um mit einer Primarschülerin, einem Primarschüler - oft mit Migrationshintergrund - zu lesen und zu diskutieren. Und sie sind beglückt von dieser Arbeit! Ich bin überzeugt, dass auch Sie, wenn Sie Asylsuchenden oder Flüchtlingen  Deutsch vermitteln, Strickkurse geben oder ihnen im Alltag behilflich sind, davon profitieren. Freiwilligenarbeit, das solidarische Engagement für Schwächere, macht auch zufrieden.

Es wäre deshalb höchst sinnvoll, wenn Asylsuchende oder Flüchtlinge, überhaupt sozial Benachteiligte ihrerseits auch Freiwilligenarbeit leisten, ihre Ressourcen und Kompetenzen in unserer Gesellschaft einbringen könnten; nichts ist schwieriger zu ertragen, als immer auf andere angewiesen zu sein. Heute ist freiwilliges Engagement eher bei Hochgebildeten, im mittleren Alterssegment, bei Personen mit schulpflichtigen Kindern und auf dem Land üblich.

Wer nichts tut, ist nicht unbedingt glücklich.  "Viele haben keinen anderen Plan, als nach der Pensionierung auszuruhen", schreibt der Wiener Altersforscher Anton Amann. "Wer kann zwanzig Jahre oder dreissig Jahre ausruhen, ohne dabei unglücklich zu werden." Der Mensch, auch der ältere Mensch, muss sich nützlich machen können, muss seine Rolle finden in der Gesellschaft. Ich bin überzeugt, dass Freiwilligenarbeit, das bürgerschaftliche Engagement, auch unser eigenes Wohlbefinden stärkt. Gemäss Freiwilligenmonitor 2016 waren die zwei wichtigsten Motive für das zivilgesellschaftliche Engagement:  "Mit anderen etwas bewegen" und "anderen Menschen helfen".

Das "soziale Kapital" der Zivilgesellschaft
 
"Freiwilligenarbeit ist das Herz und der Kitt unserer Gesellschaft. Sie macht uns stark und hält uns zusammen." Das schrieb Ihnen Regierungspräsident Guido Graf in der Einladung zu dieser Dankesveranstaltung. Das kann man nur unterschreiben! Was wäre die Schweiz ohne die Freiwilligen? Rund ein Viertel der Schweizer Wohnbevölkerung über 15 Jahren leistet wöchentlich innerhalb der Vereins- und Organisationsstrukturen vier Stunden formelle Freiwilligenarbeit. 38 Prozent sind informell freiwillig tätig, leisten also persönliche Hilfe für Freunde und Bekannte - zum Beispiel bei der Pflege oder in der Nachbarschaftshilfe. Insgesamt dürften in der Schweiz, gemäss Freiwilligenmonitor 2014, rund 700 Millionen Stunden an unbezahlten Tätigkeiten geleistet werden, bei einem Stundenlohn von 50 Franken wären das gut 35 Milliarden Franken.  

Freiwilligenarbeit ist tatsächlich der Kitt unserer Gesellschaft, das "soziale Kapital" der Zivilgesellschaft. Soziales Kapital bildet sich, wenn Menschen zusammenkommen, um etwas zu tun, das über die individuellen Interessen hinausgeht. Sie verstehen sich als Ergänzung und Korrektur zur staatlichen Politik und als unverzichtbare Mitgestalter des gesellschaftlichen Wandels - das gilt vor allem auch für die Freiwilligenarbeit im Asyl- und Flüchtlingsbereich. Denn Vorurteile und Ängste werden nur im persönlichen Kontakt abgebaut.  

Freiwilliges Engagement, so möchte ich beifügen, hilft auch gegen die Resignation.  Der Luzerner Philosoph Rayk Sprecher sagte im Silvester-Interview in der Luzerner Zeitung: "Wenn sich Menschen engagieren, politisch, gesellschaftlich, nachbarschaftlich, habe ich durchaus Hoffnung. Die grosse Politik ist nicht nur die Bühne der sogenannt Mächtigen, sondern hat mit uns allen zu tun." Ich sehe das auch so. Es braucht die Zivilgesellschaft, je länger desto mehr.

Wenn sich die Individualisierung ausbreitet
Wir haben einen Staat, der sich immer mehr differenziert  - und spart!; einen Markt, der mit seinen ökonomischen Massstäben das Leben immer stärker beeinflusst, und wir leben in einer Zeit, in der sich Individualisierung und Privatisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen ausbreiten. (Von den Fake News und dem niederträchtigen Verunglimpfen von anders Denkenden mal nicht zu reden!). Allerdings findet sich "zunehmend Sand im zivilgesellschaftlichen Getriebe der Schweiz, der soziale Kitt droht an einigen Stellen porös zu werden", wie der Berner Politikwissenschaftler Markus Freitag besorgt konstatiert. Die Vereine finden keine neuen Mitglieder, die Milizdemokratie kommt - vor allem in kleineren Gemeinden - an ihre Grenzen, weil es an der Bereitschaft fehlt, ein politisches Amt zu übernehmen.

Bemerkenswert ist, dass das freiwillige Engagement ausgerechnet bei der Generation der 60plus stagniert, also bei jenen, die eigentlich am ehesten Zeit dazu hätten - wie man denken möchte. Wenn wir länger und bei besserer Gesundheit leben, wäre es doch naheliegend, die ältere Generation stärker in das gesellschaftliche Leben mit einzubeziehen. Statt dauernd vom höheren Rentenalter zu reden, das politisch ohnehin kaum umzusetzen ist, wäre es ergiebiger, neue Formen der Partizipation für die Generation 60plus zu erproben - und dieses Engagement auch zu würdigen.

Aber selbstverständlich gibt es keine Pflicht  zur Freiwilligenarbeit; das würde ja auch wortwörtlich keinen Sinn machen. Dennoch bin ich überzeugt, dass die ältere Generation mit dem demografischen Wandel ihre Kompetenzen stärker für das Allgemeinwohl einbringen muss.

Freiwillige sind keine Lückenbüsser
Wer allerdings glaubt, die alten Freiwilligen liessen sich auf Abruf rekrutieren, um  dem überforderten Sozialstaat auf die Beine zu helfen und mit ihrem «sozialen Kapital» die leeren Staatskassen zu alimentieren, macht die Rechnung ohne die neuen Akteure. Die Babyboomer sehen sich kaum als Taglöhner und Nothelfer für Sparzeiten. Zu Recht steht im kantonalen Konzept zur Freiwilligenarbeit im Asyl- und Flüchtlingswesen,  dass sie nicht als Kompensation zum Personalmangel verstanden werden darf.

Aufgrund meiner Erfahrungen mit dem Projekt "Altern in Luzern" möchte ich drei Erkenntnisse unterstreichen:

1.  Die "Babyboomer" sind nicht interessiert an Beschäftigungstherapien. Sie wollen sinnvolle, konkrete Projekte an die Hand nehmen, die ihren gesellschaftspolitischen Nutzen haben, auch für die nachfolgenden Generationen - oder für die Schwachen der Gesellschaft. Und sie wollen Neues ausprobieren, das auch ihnen selber Spass macht.

2. Verpönt sind ausufernde, langweilige Sitzungen, an denen vor allem geredet und nichts Handfestes beschlossen wird; das haben sie alle im früheren Berufsalltag schon zur Genüge erlebt. Verpönt sind bürokratische Hürden, sie wollen wenig Papierkram erledigen müssen (auch wenn es nicht ganz ohne Formulare geht!). Stattdessen wollen sie ihren Freiraum nutzen und die Freiwilligenarbeit - so weit als möglich - selber gestalten und kreativ umsetzen können.

3. Sie brauchen fachliche Begleitung und Beistand, wenn es schwierig wird. Und es ist hilfreich, wenn Rechte und Pflichten klar geregelt sind, wie das in den Merkblättern des Kantons vorbildlich geregelt ist.

Schliesslich erlaube ich mir eine 4. Empfehlung an Sie alle hier zu richten: Machen Sie sich nicht zu viel Stress, sagen Sie Nein, wenn es Ihnen zu viel wird. Hüten Sie sich vor der Überforderung. Sie können nicht die ganze Welt retten.  

Die geleistete Arbeit anerkennen
Die Wertschätzung und Anerkennung der Freiwilligenarbeit hat an Stellenwert gewonnen, das zeigt auch die heutige Dankesveranstaltung. Spesen werden entschädigt, Zeugnisse ausgestellt, Weiterbildungen und Coaching angeboten. Die Einsätze sind flexibel, das Engagement ist oft zeitlich begrenzt. Das ist alles richtig so. Denn Freiwillige sehen finanzielle Anreize nicht als Schlüsselgrösse für die Mobilisierung. Wichtiger ist ihnen, so die Erkenntnis aus dem letzten Freiwilligenmonitor, "die Anerkennung der geleisteten Arbeit, sei es von Seiten der Organisationen oder auch durch den Staat und die Öffentlichkeit".

Noch immer sind sich Gesellschaft und Politik nicht richtig bewusst, welchen Stellenwert dem zivilgesellschaftlichen Engagement eigentlich zukäme. Freiwillig arbeiten und streiken, das passt nicht recht zusammen. Aber wenn man sich nur mal ausmalt, was wäre, wenn die Freiwilligen keine Angehörigen pflegten, keine Besuchsdienste und Einkäufe übernähmen; wenn Grosseltern auf  Kreuzschifffahrten um die Welt dampften und mit ihren Enkeln nur über WhatsApp in Kontakt wären? Wenn sich keine Mentoren um Kinder oder Jugendliche kümmerten? Oder wenn sie alle hier in der Stube zu Hause blieben statt Asylsuchenden und Flüchtlingen unter die Arme zu greifen?

Damit alle merken, was Freiwilligenarbeit bringt, müssen Sie als Freiwillige auch darüber reden und ihr Engagement sichtbar machen - so können Sie vielleicht andere dazu motivieren. Denn Sie haben nicht nur gemeinnützige, sondern auch eigennützige Motive auf ihrer Seite: Wer sich engagiert, bleibt gesund. Wer sich Neugierde und Offenheit  bewahrt, wird weniger häufig dement - wenn das keine Argumente sind!

Der typische Freiwillige, das lässt sich übrigens aus dem Freiwilligenmonitor herauslesen, ist ein aktiver, geselliger und freundlicher Mensch. Er oder sie interessiert sich stark für das politische Geschehen und beteiligt sich auch öfter an Abstimmungen als Nichtfreiwillige. Ein schönes Kompliment, finde ich. Jedenfalls gratuliere ich Ihnen zu Ihrem Engagement und wünsche Ihnen weiterhin viel Lust und Freude bei der freiwilligen Arbeit.  - 18.1.2018