DIE „MISSION IMPOSSIBLE“ EINER UMERZIEHUNG MIT ACHTZIG

Von René Regenass (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

„Sucht im Alter“ – das Thema bewegt, die Medien springen, es animiert Sozialschaffende und Wissenschaftler, und es wird den einen oder andern alten Menschen verunsichern, nachdenklich machen. Wir versuchten uns an Brennpunkten zu informieren, etwas Wirklichkeit zu erfassen.

Das Bundesamt für Gesundheit publizierte Resultate aus dem Suchtmonitoring Schweiz von 2015: Etwa 7,3 Prozent der Männer und Frauen im Alter von 65 bis 74 Jahren würden einen chronisch-risikoreichen Alkoholkonsum aufweisen, heisst es da. Chronisch-risikoreich sei der Konsum dann, wenn ein Mann im Durchschnitt 40 Gramm reinen Alkohol oder vier Weingläser pro Tag trinke, eine Frau 20 Gramm oder zwei Gläser Wein zu sich nehme. Weiter heisst es in der Publikation, Projekte der Früherkennung und Frühintervention richteten sich an die Spitex-Organisationen oder Pflegeeinrichtungen.

In Luzern hat 2012 das damalige Drogenforum Innerschweiz (DFI) das Projekt „sensor – Frühintervention bei Suchtgefährdung im Alter“ gestartet.  Im Medientext heisst es: „Der Rückzug aus dem Berufsleben, der zunehmende Funktions- und Aktivitätsverlust können belastend sein. Kritische Lebensereignisse wie der Verlust des Partners, finanzielle Engpässe oder soziale Isolation gehören ebenfalls zu den Risikofaktoren für eine Suchtentwicklung.“

Ein Leitfaden für Altersinstitutionen

Heute heisst das DFI „Akzent – Prävention und Suchttherapie“. Diese Institution hat einen Leitfaden mit Checklisten zum Umgang mit Suchtgefährdeten geschaffen. Titel: „Frühintervention in Altersinstitutionen“. Der Leitfaden kann hilfreich sein. Ob man in den Altersinstitutionen – sie werden als erste Adressaten genannt – Raum und Zeit findet, auf das umfangreiche Programm einzugehen, bleibt offen.

„Worum geht es“ heisst da: „Suchtprobleme gibt es auch bei älteren Menschen, sie werden aber sehr oft tabuisiert. Wer will denn schon einem 70Jährigen sein wohlverdientes Glas Wein vermiesen?“ Es folgen Aussagen zum Konsum. Ein gesunder Mann sollte nicht mehr als zwei Standardgetränke Alkohol pro Tag trinken, eine Frau nicht mehr als eines. Als Standardgetränk gelten ein dl Wein oder 3 dl Bier. Diese Zahlen sind um die Hälfte tiefer als jene des Bundesamtes für Gesundheit (vier Glas Wein pro Tag beim Mann). Schliesslich werden auch Schlaf- und Beruhigungsmittel thematisiert.

Im Leitfaden heisst es weiter, um bei älteren Menschen etwas gegen Suchtprobleme unternehmen zu können, sei das Einverständnis der betroffenen Person notwendig. In weiteren Abschnitten folgen Aussagen zum Erkennen der Sucht, zum Reflektieren, zum Handeln (mit einer Checkliste zur Gesprächsführung), zur Vernetzung und zur Schulung.

Christina Meyer – sie betreut das Ressort Erziehung bei Akzent – hat die Projektarbeit für den Leitfaden geleitet. Eine Arbeitsgruppe der involvierten Institutionen (u.a. Curaviva, Spitex) wolle das Projekt jetzt weiterentwickeln. Im Vordergrund steht die Schulung der Mitarbeitenden, sagt Christina Meyer.

Schwierige Lebensübergänge

Die ambulanten Fachstellen für Menschen mit zeitweiligen oder länger andauernden Alkoholproblemen im Kanton Luzern sind die Sozial-BeratungsZentren SoBZ (www.sobz.ch). Diese beraten auch bei anderem übermässigem Konsum oder Verhalten von Glücksspiel, Gamen, Kaufen, Rauchen, neuen Medien und Medikamenten. Beim Gebrauch von illegalen Substanzen sind diese Stellen jedoch nicht zuständig.

Gemäss Aussagen von Ruedi Studer, Sozialarbeiter im SoBZ Luzern an der Obergrundstrasse 49, melden sich die meisten Betroffenen im Bereich des übermässigen Alkoholkonsums im Alter von ca. 45 – 60 Jahren, einem Alter, wo dieser sich merklich auszuwirken beginnt. In vielen Fällen gibt eine Drittperson den Anstoss zum Aufsuchen der Beratungsstelle. Wo sieht Ruedi Studer den Auslöser für die Kontaktnahme: „Die Gründe sind so vielfältig, wie es Menschen gibt. Lebensübergänge wie Arbeitsverlust, Trennung, Krankheit sind aber häufige Auslöser für eine Verschärfung der Problematik. Unter den Betroffenen befinden sich nicht selten Männer jenseits der Berufsjahre, denen eine identitätsstiftende Aufgabe fehlt. Viele Kontakte fallen weg, man wird nicht mehr gebraucht, der Alltag wird als fad und langweilig erlebt.“ Auch bei vorher engagierten Leuten stehe plötzlich die Sinnfrage im Zentrum. „Was kommt jetzt noch?“ Es sei dann ein kleiner Schritt, um diese Stimmung mit etwas mehr Alkohol abzufedern, sagt Ruedi Studer. Eine gewisse Affinität zum Alkohol sei jedoch bei vielen Menschen schon früher vorhanden gewesen, ergänzt Studer. „Aber damals wurde durch den Beruf und die damit verbundenen Beziehungen eine tragende und verpflichtende Struktur gewährleistet.“ Ein Kontakt zum SoBZ ist dann für viele Betroffene eine gute Unterstützung, um gemeinsam sinnstiftende Lösungsideen besprechen zu können.

Die Sucht als Resultat der Lebensgeschichte

Beat Demarmels ist Geschäftsleiter bei Viva Luzern, der Aktiengesellschaft, welche vor drei Jahren die städtischen Alterssiedlungen übernommen hat. Sucht im Alter! Wie gehen die Heime damit um? „Wir haben keine neuen Erkenntnisse. Wir versuchen, vor und nachzugeben und beim Alkoholkonsum jeweils abzuschätzen, was noch vertretbar ist. Die Suchtproblematik ist bei den meisten Bewohnern und Bewohnerinnen schon beim Heimeintritt vorhanden.“ In der stationären Einrichtung sei es sehr schwierig, Menschen aus einer Sucht herauszuholen. Zudem: „In letzter Zeit konstatiere ich eher eine Häufung von psychischen Problemen“, sagt Demarmels.

Ähnlich argumentiert Werner Sägesser, Leiter des Alters- und Pflegeheims  Unterlöchli. „Die Sucht ist das Resultat einer Biografie; sie entsteht nicht im Heim. Die Grenzen sind erreicht, wenn jemand auf Grund seines Alkoholkonsums das eigene Wohl oder das anderer Heimbewohner gefährdet. Dann  müssen wir intervenieren, Bezugspersonen informieren und mit ihnen das Gespräch suchen.“ Sägesser spricht von einem Runden Tisch mit allen Betroffenen. In einem Fall habe man die finanziellen Mittel des Heimbewohners eingeschränkt. Doch auch im Unterlöchli hält sich die Zahl der schwierigen Fälle sehr in Grenzen. „Es sind Einzelfälle, ich weiss von zwei Bewohnern in den letzten Jahren.“

Paul Otte war 19 Jahre Leiter des Pflegeheims Steinhof. Seine Haltung zur Sucht ist pragmatisch. Einen übertriebenen Aktivismus lehnt er ab. „Einem Bewohner, der die Suchtproblematik mitbringt, sollte man das Weiterleben auf eine gute Art ermöglichen, in geordneten Bahnen, ohne negative Auswirkungen auf das Umfeld im Heim. Die Person soll in kontrollierter Art zu ihrem Alkohol kommen und den gewohnten Pegel halten können.“ Eine Umerziehung mit 80 lehnt Otte klar ab. „Wenn jemand mit seiner Sucht alt geworden ist, müssen wir nicht meinen, ihn heilen zu können. Das ist eine „mission impossible“. Wir sind gut gefahren mit dieser Haltung. Es geht um Einzelfälle, jeder für sich ist nicht einfach.“ 

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Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Die Redewendung trifft zum Teil auf Zahlen und Projekte zu, welche die Sucht im Alter thematisieren. Der Ansatz geht in die falsche Richtung. Und er hat einmal mehr in der heutigen Zeit die alten Menschen im Visier. Das macht mich sauer, gehörig! Warum? Weil es nicht möglich ist, im Altersheim eine Alkoholsucht zu bekämpfen. Wenn schon Suchtbekämpfung, müsste man früher im Leben ansetzen. Doch das wäre genau so schwierig. Stichworte dazu: Sozialisation, Stress und Überforderung am Arbeitsplatz, eine tägliche, oft selbst organisierte Hektik im Alltag, eine Beziehung, die keine mehr ist. All dies und noch mehr kann zum Suchtverhalten führen.

Ich kann ungehalten werden bei diesen Themen, weil es irgendwo am Ende der Argumentationskette um Lebensqualität und erzwungene Lebensverlängerung geht. Ein persönliches Erlebnis kann den Unmut etwas erklären. Ich begleite in freiwilligen Einsätzen Schwerkranke. Die Frau im Pflegeheim, 90 Jahre alt, schrie vor Angst und Schmerzen. Das Liegen tat ihr weh, sie fand keine Stellung der Ruhe mehr. Sie rief nach Mama. Ansätze zur Demenz waren spürbar. Sie hätte das Medikament gebraucht. Aber die Pflegerin durfte es erst um 2 Uhr nachts geben, weil es der Arzt so vorgeschrieben hatte. Es bestehe Suchtgefahr. Da frage ich mich schon, was da von den medizinisch Verantwortlichen verhindert oder noch geschützt werden soll? Vor diesem Hintergrund empfinde ich Sucht-im-Alter-Projekte als doppelbödig.