Wenn der Zeitgeist am Rechtsstaat nagt

Von Meinrad Buholzer

Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass ein persönlicher Streit anders ausfällt, eine andere Dynamik hat, wenn eine dritte, nicht involvierte Person dabei ist. Man überlegt sich besser, was und wie man etwas sagt. Diese Situation, übertragen auf eine institutionelle Ebene, haben wir im Gerichtssaal. Und dieser Transfer des Konfliktes aus der Affektzone (Faustrecht, Blutrache, Lynchmord, Selbstjustiz usw.) ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Dazu gehört, wenn  öffentlich über einen Verdacht, eine Anklage, einen Prozess berichtet wird, der Refrain der „Unschuldsvermutung“. Doch der Firnis der Zivilisation ist dünn und wir leben in einer Zeit des Umbruchs, in der alles in Frage gestellt wird. Mit offenem Ausgang: Entweder wird es über den Haufen geworfen oder es geht gefestigt daraus hervor.

Zu den Rechten eines Angeklagten, was immer er verbrochen hat, gehört in unserem Rechtssystem ein Verteidiger. Diese Einrichtung stiess von Anfang an auf Widerspruch. Wer einen Kindsmörder verteidigte, in der McCarthy-Ära einen Kommunisten oder, früher in den Südstaaten, einen Schwarzen, um drei Beispiele zu nennen, der stand im Gegenwind, gebildet von denen die man heute „Wutbürger“ nennt. (Wer sich ein Bild davon machen will, der lese die Geschichte vom Anwalt Atticus Finch in Harper Lees Buch „Wer die Nachtigall stört“ – eine vergleichsweise harmlose Version.) Zwar sind Vorbehalte gegen die Verteidigung von ungeheuren Verbrechern nachvollziehbar; auch ich frage mich zuweilen, wie man diesen oder jenen Täter verteidigen kann. Doch das sind persönliche Gefühle, die das Gericht nicht beeinflussen dürfen, wenn wir den Rechtsstaat nicht entsorgen wollen.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet Kreise, die unter Auswüchsen von Selbstjustiz gelitten haben, heute zu ähnlichen Mitteln greifen. Es geht hier um Ronald Sullivan, Professor für Recht und erster schwarzer Dean (Vorsteher eines Colleges) an der Harvard Universität; bekannt dafür, dass er zahlreiche Fälle pro bono (freiwillig, unbezahlt) übernommen hat und u.a. der Familie des schwarzen Teenagers beistand, der 2014 in Ferguson, Missouri; von einem Polizisten erschossen wurde. Doch nun ist er seinen Job los; Harvard hat ihn, nach Protesten von Studierenden, kaltgestellt.

Was hat er verbrochen? Er gehört zum Verteidigerteam von Harvey Weinstein, jenem Filmproduzenten, der beschuldigt wird, Dutzende von Frauen sexuell belästigt und/oder vergewaltigt zu haben. Und diese Aufgabe ist im heutigen gesellschaftlichen Klima offenbar ein No-Go. Denn der Fall Weinstein steht am Anfang der #MeToo-Bewegung.

Damit wir uns richtig verstehen: Ich habe keine Sympathien für Weinstein, die Beweislast gegen ihn ist erdrückend und ich zweifle nicht, dass sie gut begründet ist. Doch auch er hat, wie jeder Angeklagte – ob Serienmörder oder Menschenrechtsaktivist an der Grenze der Legalität –, das Recht auf einen Verteidiger. Aber hier geht es um Sullivan, nicht um Weinstein. Und ein Anwalt hat das Recht, einen Menschen zu verteidigen, ohne dass ihm unterstellt wird, die Tat seines Mandanten gutzuheissen.

Deshalb ist das Zeichen, das diese Elite-Universität setzt, verheerend. Es ist eine Aushöhlung des Rechts, ein Kniefall vor Emotionen (und nicht vor Fakten), ein Riss im Mantel, der die Gesellschaft zusammenhält – Zeugnis eines vernebelten Denkens, das seine Orientierung verloren hat. Und das kann ungemütlich werden. Nicht nur für Männer wie Weinstein. Für uns alle, Frauen und Männer.

Jedem kann es passieren, dass er angeklagt ist. Dann wird er auf der Unschuldsvermutung beharren. Und einen Verteidiger nehmen, wenn möglich einen guten. Wenn wir den Damm gegen die Willkür nicht instand halten, sind wir wieder dort, wo die Menschheit schon einmal war. Dann genügt es, jemanden eines Verbrechens zu bezichtigen, das in der Empörungsskala gerade ganz oben steht, um ihn von der Masse fertig machen zu lassen. An Typen, die nur auf solche Gelegenheiten warten, herrscht erfahrungsgemäss kein Mangel...

29. Mai 2019

Zur Person Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.

 

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