Wilhelm Tell

Von Judith Stamm

Ist es möglich, dass ich für eine Kolumne noch nie auf unseren unerschöpflichen Zitatenschatz, den Text des Schauspiels Wilhelm Tell von Friedrich Schiller (1759 – 1805), zurück gegriffen habe? Das entsprechende Reclambändchen liegt griffbereit in meiner Nähe, zuoberst auf einer Bücherbeige. Vom häufigen Gebrauch droht es auseinander zu fallen. Natürlich, ich hatte ja einmal eine Wilhelm-Tell-Phase! Als im Sommer 2004 die Schauspieler des Deutschen Nationaltheaters Weimar auf dem Rütli den Wilhelm Tell spielten. 200 Jahre nachdem er 1804 in Weimar uraufgeführt worden war. Das waren unvergessliche Abende!

Die Textseiten sind übersät mit gelben, grünen, blauen, roten Markierungen. Und siehe da, in meiner Hand öffnet sich das Büchlein von selbst, auf einer Seite mit rot gefärbten Sätzen. Da lese ich: „Der Starke ist am mächtigsten allein“. Und immer noch werde ich zornig, weil dieses Zitat meist losgelöst von seiner Fortsetzung genannt wird. Diese umfasst weitere acht Zeilen, beinhaltet keineswegs eine Absage an Solidarität, im Gegenteil. Man lese das einmal in aller Ruhe nach.

Eine nächste hervorgehobene Aussage lautet: „Die Zeit bringt Rat. Erwartets in Geduld. Man muss dem Augenblick auch was vertrauen“. Noch heute empfinde ich das als einen wunderbaren Satz, der Vertrauen in den Augenblick empfiehlt. Dass beim neuerlichen Durchlesen der gekennzeichneten Passagen die alten Gefühle wieder „aufwallen“, kommt mir wie ein kleines Wunder vor.

So erinnere ich mich noch gut an das Gespräch zwischen Werner Stauffacher und seiner Frau Gertrud. Er machte sich Sorgen über einen zukünftigen kriegerischen Konflikt und meinte: „Wir Männer können tapfer fechtend sterben, welch Schicksal aber wird das Eure sein?“ Und die verblüffende Antwort von Gertrud lautete: „Die letzte Wahl steht auch dem Schwächsten offen, ein Sprung von dieser Brücke macht mich frei.“ Keine falschen Hoffnungen, keine Ausflüchte, ein klar gefasster Entschluss wird da hörbar!

Im weiteren Fortgang des Geschehens will Hedwig ihren Mann Tell davon abhalten, nach Altdorf zu gehen, solange der Landvogt sich dort aufhalte. Da entgegnet er ihr, der Landvogt werde ihn wohl in Ruhe lassen. Und erzählt ihr von einer Begegnung, die er kürzlich auf einem verlassenen Felsenweg mit diesem gehabt hatte. Die beiden Männer kreuzten sich, allein, und der Landvogt erblasste vor Angst. Denn er hatte den Tell, kurz zuvor „um kleiner Ursach willen schwer gebüsst“ und fürchtete Rache. Tell aber entfernte sich und schickte dem Landvogt sein Gefolge, von dem er sich offensichtlich zu weit entfernt hatte. Tell war der Meinung, seine friedliche Haltung in dieser brenzligen Situation werde ihm vom Landvogt sicher honoriert. Was aber antwortete Hedwig ihrem Mann: „Er hat vor Dir gezittert – wehe Dir! Dass Du ihn schwach gesehn, vergibt er nie“.

Ich bin auch heute noch erstaunt, wieviel Weisheit und Kenntnis des menschlichen Charakters aus diesen Worten spricht. Dabei erlebte doch die Psychologie ihre Hochblüte erst lange nach Schillers Tod.

Schliesslich will ich auch den Freiherrn von Attinghausen nicht vergessen. Der alte Mann macht im Verlaufe des Stückes eine erstaunliche Entwicklung durch. „Das Neue dringt herein mit Macht, das Alte das Würd`ge scheidet, andre Zeiten kommen, es lebt ein andersdenkendes Geschlecht! Was tu ich hier? Sie sind begraben alle, mit denen ich gewaltet und gelebt. Unter der Erde schon liegt meine Zeit. Wohl dem, der mit der Neuen nicht mehr braucht zu leben!” So hören wir ihn sprechen. Als er aber kurz vor seinem Tod über alles informiert wird, was sich in der Region getan hat, formuliert er eine neue Erkenntnis: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.“

Das sind hoffnungsvolle Worte. Wir Heutigen haben zusätzliches Wissen über das weltweite politische Geschehen und über den Zustand unseres Planeten Erde.  Das hindert uns daran, die tröstlichen Worte Attinghausens mit der selben Zuversicht zu wiederholen.
16. Juni 2019

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.