Mir Ahmad Marowat (Zweiter von rechts) auf dem Bild des Schweizer Fernsehens.s

Mir Ahmad Marowat (Zweiter von rechts) auf einem Bild des Schweizer Fernsehens.

Auf dem Weg von Afghanistan nach  Luzern

Mit einem Sprichwort erklärt er den Menschen

Von René Regenass

Als Mir Ahmad Marowat mit seiner Frau Sweeta und der damals knapp zweijährigenTochter Aysuda in der Schweiz ankamen, in Empfangszentrum in St. Margreten, zeigte ihnen der Polizist als erste Handlung die Schweizer Fahne und sagte, sie seien jetzt in diesem Land.

Das war 2016. Sie waren aus Afghanistan geflüchtet, zuerst in die Türkei, wo sie anderthalb Jahre lebten. Dann ging’s mit einem Boot weiter nach Griechenland und von dort mit Bus bis in die Schweiz. Hier kamen sie von St. Margreten kurz nach St. Gallen, dann in die Asylzentren in Bremgarten, im Sonnenhof in Emmenbrücke, in Rothenburg und schliesslich nach Luthern, bis sie jetzt mit Ausweis F in Emmenbrücke eine „zahlbare Wohnung“ gefunden hätten , wie Mir erzählt. Mit dem Ausweis F, den sie vor fünf Monaten erhalten haben, gilt die Familie als „vorläufig aufgenommen“, weil sie aus rechtlichen oder humanitären Gründen nicht ausgeschafft werden kann.

Ein Wechselbad der Gefühle
Luthern im Luzerner Hinterland. Die Gemeinde zählte vor zwei Jahren 1295 Einwohner, davon 92 Ausländer und Ausländerinnen. Vor dreissig Jahren waren es 6 Ausländer. Berglandwirtschaft herrscht vor. Von 184  Arbeitsstätten im  Jahre 2016 waren 120 Landwirtschaftsbetriebe, also rund 65 Prozent.

Zuerst schwierig, später fast eine Willkommensstimmung: Das ist Luthern im Rückblick für Mir. Wenn sie einmal in die Stadt wollten, kostete das für eine Person rund 12 Franken, kaum zu zahlen für einen Asylsuchenden. „Und wir fühlten uns allein und verlassen von der Welt“, sagt Mir. Doch die Situation änderte sich. Mir sass im Dorf auf einer Bank. Eine Frau sprach ihn an und lud ihn zu einer Tasse Tee ein. In der Folge sah man sich regelmässig, auch mit der Familie. Später kam noch eine andere Familie aus Afghanistan nach Luthern. Die freundliche Frau – so nennt sie Mir – organisierte Sprachkurse für die Fremden. Zweimal in der Woche konnten sie zu einem pensionierten Lehrer ins Schulhaus.  Die beiden Familien wurden an eine Gemeindeversammlung eingeladen und dort vorgestellt.

Die Flüchtlinge arbeiteten in Luthern ab und zu auf den Bauernhöfen. „Das war gut für uns“, sagt Mir. Sie erhielten eine minimale Entschädigung, einen Franken pro Stunde. Denn sie durften als Asylbewerber nicht einer Lohnarbeit nachgehen.

Dann erzählt der Afghane mit grosser Freude von der Aktion „Tischlein deck dich“. Er sagt es so, sehr deutlich. Eine Frau fuhr die Familie von Luthern nach Willisau. Dort ging man zusammen in einen von der Kirche verwalteten Gemeinschaftsraum zu einem guten Essen.

Im Schweizer Fernsehen präsent
Zu einer guten Erinnerung hat auch das Schweizer Fernsehen mit der Reportage „Vier Dörfer – ein Land“ beigetragen. In einer siebenteiligen Serie wurde im letzten Sommer aus jeder Sprachregion ein Dorf mit einem bestimmten Bezug vorgestellt. Dazu gehörte auch Luthern mit dem Beitrag über einen Lehrer, der seit über 30 Jahren in der Gemeinde als Sekundarlehrer wirkt, „mit Leib und Blut“ wie es im SRF-Hinweis heisst. In dieser Sendung wurde auch auf den Deutschunterricht für die Afghanen in Luthern hingewiesen. Und so kam Mir plötzlich im Schweizer Fernsehen.

Im vergangenen Herbst sprach der Afghane – jetzt mit dem Ausweis F als anerkannter Flüchtling - auf dem kantonalen Migrationsamt mit seinem Sozialarbeiter und äusserte den Wunsch, in der Umgebung von Luzern eine Wohnung suchen zu dürfen. Die Wohnungssuche wurde erlaubt, und Mir fand für seine Familie – inzwischen vier Personen mit der in Luthern geborenen Asi – eine günstige 3 ½-Zimmerwohnung in Emmen. Das SAH, Schweizer Arbeiterhilfswerk, unterstützt ihn aktuell auf dem Weg in einen Beruf. Naheliegend wäre eine Arbeit im IT-Bereich, wo Mir in seiner Heimat gearbeitet hat. Im Vordergrund steht aber immer noch die Verbesserung der deutschen Sprachkenntnisse.

Gute Kontakte im Hello Welcome
Mein Gespräch mit Mir fand im HelloWelcome am Kauffmannweg in Luzern statt, ein Treffpunkt für Flüchtlinge aus der ganzen Welt mit Luzernern und Luzernerinnen. Von HelloWelcome hat Mir zufällig gehört. Es sei ein guter Platz, wo man sich treffen und austauschen, Probleme besprechen könne. Und die deutsche Sprache lernen. „Ich habe im Internet gesucht und Angaben dazu gefunden. Dann bin ich hergekommen.“ Ob seine Frau auch zum HelloWelcome komme, frage ich. „Sie kommt weniger, weil sie sich um die Kinder kümmert.“

Deutsche Sprache – schwierige Sprache: Wenn Mir Zahlen über zehn formulieren will, muss er genau überlegen. Er sagt „acht…..undzwanzig“, drei….undvierzig“. Die Verbindung mit dem „zwanzig, dreissig“ ist schwierig für ihn.

Abwesend beim Tod des Vaters
Was macht Mir Mühe in der Schweiz, wo er jetzt seit drei Jahren mit seiner Familie lebt? „Als ich im Asylzentrum in Emmenbrücke weilte, ist mein Vater in Afghanistan gestorben. Er war 82. Ich konnte nicht hingehen. Das war schwierig. Ich wäre sehr gerne dabei gewesen.“ Doch Mir Amhed kann gar nicht zurück gehen, sonst riskiert er die Gefangennahme. „Ja, das stimmt. Ich kann gar nicht zurück. Aber es war trotzdem schwierig.“ Mir erzählt dann, sein Vater sei schwer krank gewesen. Die Taliban hätten ihn mit Holzscheiten geschlagen, geprügelt. Sein Bruder sei von den Taliban getötet worden.

Das Sprichwort mit den Fingern einer Hand
Ich möchte mehr hören von seinen Erfahrungen mit den Landsleuten hier, in der Schweiz. Mir ist zurückhaltend, sagt dann aber, er habe hier keine schlechten Erlebnisse gehabt. „Bei uns zu Hause gibt es ein Sprichwort, das sagt, die Finger an einer Hand seien nicht alle gleich. Damit meinen wir, es gebe verschiedene Menschen. Ich finde die Leute nett, aber nicht alle sind gleich.“ Sein Schwiegervater arbeitet seit 28 Jahren beim Roten Kreuz in Afghanistan. Von ihm wusste Mir etwas von der Schweiz. Seit 200 Jahren habe in diesem Land keinen Krieg gegeben, habe er erzählt. Die Menschen seien freundlich.

Welche Vorstellungen hat der 43jährige Mann aus Afghanistan für die Zukunft? Er sucht in erster Linie Arbeit, aber das ist nicht so einfach. „In Afghanistan hatte ich eine gute Arbeit bei einer internationalen Firma, zuerst als Community Trainer in Socialwork (Sozialarbeit), später als Datebase Officier (Datenbank). Noch vorher hatte ich die pädagogische Ausbildung gemacht. Aber damit konnte ich nicht leben.“ Mir hat seine Vorstellungen beim Kanton und bei der Arbeitsvermittlung des SAH (Schweizer Arbeiterhilfswerk) dargelegt. Man werde prüfen, was möglich sei, erhielt er zur Antwort. „Aber ich muss eine Arbeit suchen und auch finden“, sagt Mir.
22. Oktober 2019

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Zum Kontext

Wir und die Flüchtlinge – die

Flüchtlinge und wir

Die Redaktionsgruppe des Forums Luzern60plus möchte sich mit einer Serie von Beiträgen der Themen Migration und Flüchtlinge annehmen. Wir wollen den Betroffenen eine Stimme geben, statt nur den rhetorischen Strategien der Rechtpopulisten Raum zu bieten, die in den Medien in vielen Fällen unreflektiert aufgenommen werden.

Wer sich ein wenig herum hört, erfährt immer wieder von Begegnungen älterer Leute mit Asylsuchenden. Im Unterschied zur Aktiv-Generation haben viele Pensionierte Zeit (und oft auch Lust), sich auf Menschen einzulassen, die auf der Flucht vor Krieg, Repression oder Armut zu uns gekommen sind und hoffen, hier Asyl zu finden.

Staatliche Stellen und Hilfswerke bemühen sich, den Flüchtlingen Unterkunft und Betreuung zu gewähren und ein faires Asylverfahren zu garantieren. Auch Deutschunterricht, der eine entscheidende Rolle für ihre Integration in Gesellschaft und Arbeitswelt spielt, wird angeboten, sobald sie ein (oftmals nur vorläufiges) Bleiberecht erhalten. Dennoch sind diese Menschen, die in ganz andern Kulturen aufgewachsen sind, oft in einer schwierigen Situation. Zum Teil haben sie gute Kontakte zu Landsleuten in der gleichen Situation, aber zwischen ihnen und der einheimischen Bevölkerung gibt es eine unsichtbare Wand, die zu durchbrechen für beide Seiten – zumindest auf den ersten Blick – nicht einfach scheint.

Genau da können ältere Menschen, die sich für Fremde und Fremdes interessieren, spannende Erfahrungen machen. Sie brauchen nur den ersten Schritt zu wagen. Luzern60plus stellt den Leserinnen und Lesern in den kommenden Monaten ein paar Beispiele solcher Begegnungen vor.

Achmed möchte dazugehören

  • Porträt eines Afghanen, der seit drei Jahren in der Schweiz lebt, den Ausweis F hat und sich zu integrieren sucht (lesen Sie unten weiter).

Was ist eine «Tante»?  

  • Deutsch zu lernen ist für Flüchtlinge eine Pflicht: einige schaffen es mit grosser Hingabe, für andere ist es eine Qual. Doch viel hängt ab von den Umständen unter denen unterrichtet wird. Wir berichten von einem mehrjährigen Projekt, in dem Pensionierte (zwei Lehrpersonen, zwei Ärzte und ein Journalist) sowie Studierende der Uni Luzern mit eritreischen und afghanischen Flüchtlingen Deutsch trainieren und  ihnen auch  einiges über uns und unser Land vermitteln möchten.

Abraham hat es geschafft.

  • Er hat Deutsch gelernt und eine Ausbildung gemacht. Doch jetzt, wo es für den Somalier gilt, eine Stelle zu finden, mit der er seine Familie ernähren könnte, steht er vor grossen Hindernissen.