Lesen als intensives Gemeinschaftserlebnis - in der Stadtbibliothek.

Gemeinsames Lesen als vorabendliche Wohltat

Von Hans Beat Achermann (Text und Bild)

Gemeinsam lesen, darüber reden und eigene Erfahrungen, Gedanken und Gefühle mit einbringen: Das ist die Idee von Shared Reading. Wir haben in der Stadtbibliothek Luzern mitgelesen, mitgehört, mitdiskutiert und mitgeschrieben.

Ein grosser ovaler Tisch, darum herum 16 Frauen und vier Männer, es gibt Tee oder Wasser und dazu süsse Kambly-Bretzeli. Vor den Wartenden stehen Namensschilder mit dem Vornamen. Es ist 17.30 Uhr. Draussen leuchten die Nachtlichter des Löwencenters und rollt und rauscht der Abendverkehr. Im Bibliotheksraum herrscht gespannte Ruhe. Nicole Fall, Bereichsleiterin der Stadtbibliothek Luzern und ausgebildete Shared Reading Facilitator, verteilt einen Text, der in den nächsten 80 Minuten vorgelesen und besprochen wird, ohne Zwang, ohne Vorkenntnisse, ohne Druck.

Wohltuende Entfaltung der Literatur

„Shared Reading" heisst das Projekt, gemeinsames oder geteiltes Lesen, und im Untertitel steht noch: An Worten wachsen. Zum neunten Mal schon treffen sich Leute, die sich vorher nicht kannten, um sich auf einen literarischen Text einzulassen und anhand von Sprache eigene Erfahrungen und Gefühle, Erinnerungen und Assoziationen auszutauschen. Einige sind zum ersten Mal dabei, andere sind „Wiederholungsleserinnen". Niemand muss etwas sagen, aber alle dürfen, niemand wird aufgerufen. Man nennt sich mit Vornamen: Evelyne, Maike, Eduard, Erika, Franz, Renata, Brigitte, Beatrice, Jakob usw. Die einen sprechen Mundart, die andern Schriftsprache. Einige sind bereits im Pensionsalter, andere noch im Erwerbsleben.

„Shared Reading ist weder Therapie oder Medizin noch Buchclub oder ambitionierter Literaturkreis, sondern eine Methode, in einer Atmosphäre unangestrengter Offenheit die wohltuende Entfaltung der Literatur, von Texten und Wörtern, zu fördern", steht im Ausschreibungstext. Shared-Reading-Gruppen gibt es in England, Deutschland und Österreich, seit kurzem auch in der Schweiz, gefördert vom Bundesamt für Kultur und getragen und organisiert von den Bibliotheken.

Zum Schluss ein Gedicht

Der Text, den die heutige Moderatorin Nicole Fall verteilt hat, heisst „Die Seidenstrümpfe" und stammt von der US-amerikanischen Autorin Kate Chopin. Er handelt von einer offensichtlich von Armut betroffenen Frau, „der kleinen Mrs. Sommers", die unerwartet in den Besitz von 15 Dollar gekommen ist und sich nun den Kopf darüber zerbricht, wie sie diese Summe anlegen soll. Den Kindern Kleider kaufen? Stoff, um Hemden zu nähen? Doch als sie im Laden mit den Sonderangeboten steht, werden Vorsätze und Vernunft abgeworfen, Seidenstrümpfe sind die erste Versuchung, der sie nicht widerstehen kann, dann beginnt sich die Luxusspirale zu drehen und es wird offensichtlich, dass Mrs. Sommers für einen kurzen Moment an ein früheres Leben anknüpfen kann.

Es ist ein wunderbar gewählter Text, der viel Stoff bietet für eigene Erfahrungen: sei es mit früheren Entbehrungen, sei es mit heutiger Armut, aber auch mit Kaufrausch, mit Überfluss und mit dem Thema, dass Kleider Leute machen. Heisst frei sein Luxus und Geld besitzen oder oder gibt es auch „das Glück der Belohnung und des Verzichts", wie Eduard fragend das angeregte Gespräch beschliesst? Die Gesprächsbeiträge werden in einem sehr wohlwollenden Klima formuliert, es gibt weder falsch noch richtig, die Frage heisst: Was sagt mir der Text und was löst er bei mir aus? Zum Abschluss bei allen Shared-Reading-Gruppen liest die Moderatorin ein Gedicht vor, es bleiben noch zehn Minuten, um dieses wirken zu lassen und seine eigenen Gedanken dazu zu äussern. Diesmal stammt es von der 1979 geborenen Uljana Wolf.

Dinge anders sehen lernen

Nach genau 90 Minuten ist Schluss, viele bedanken sich für die spannende Erfahrung, freuen sich auf ein nächstes Mal, danken der Moderatorin im Vorbeigehen. Vielleicht werden dann wieder andere Lesefreudige dabei sein, denn Shared Reading beginnt immer wieder neu, vielleicht muss die Veranstaltung doppelt geführt werden, denn mit 20 Teilnehmenden ist eine Grenze erreicht. Mein Eindruck war, dass genau das erreicht wurde, was der Gründer von Shared Reading im deutschsprachigen Raum, der ehemalige Verlagsleiter Carsten Sommerfeldt, formuliert hat: „Durch Bücher kann ich oftmals Dinge anders und dadurch klarer sehen. Dieses Gefühl hat mich (...) im Gespräch mit Autoren, Buchhändlern und Lesern verbunden. Durch ‚Shared Reading' ist dieser Austausch tiefgehender und unmittelbarer geworden - wie eine offene Einladung, die in jeder Session aufs Neue ausgesprochen wird und die wir gemeinsam annehmen können. Durch Bücher kann ich oftmals Dinge anders und dadurch klarer sehen." - 14.2.2019

hansbeat.achermann@luzern60plus.ch

Die nächsten Shared-Reading-Veranstaltungen finden am 11. und 25. März, 8. April, 6. und 20. Mai, 3. und 17. Juni sowie am 1. Juli in der Stadtbibliothek im Bourbaki statt. Die Veranstaltungen beginnen jeweils um 17.30 Uhr und dauern 90 Minuten. Die Teilnahme ist kostenlos, eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Angesprochen sind alle, die Freude an literarischen Texten haben; eine Vorbildung braucht es nicht.