Zivilcourage

Von Judith Stamm

„Zivilcourage ist der Mut, für seine Überzeugung trotz eines zu erwartenden Widerstandes oder Nachteiles einzustehen“. Diese kurze Definition des Begriffs entnehme ich dem Duden.

Wenn ich die nachfolgenden Sätze lese oder zitiere, friert es mich auch heute noch:  „Zuerst kamen sie, um die Sozialisten zu holen. Ich sagte nichts, ich war ja kein Sozialist. Dann kamen sie, um die Gewerkschafter zu holen. Ich sagte nichts, ich war ja kein Gewerkschafter. Dann kamen sie, um die Juden zu holen. Ich sagte nichts, ich war ja kein Jude. Dann kamen sie, um mich zu holen. Und es war niemand mehr da, der etwas hätte sagen können“.

Die Worte werden dem deutschen Pastor Martin Niemöller (1892 – 1984) zugeschrieben. Er war von 1941bis 1945 im Konzentrationslager Dachau und wurde 1945 von amerikanischen Truppen befreit. In der Folge versah er in der evangelischen Kirche Deutschlands verschiedene Ämter und war von 1961 bis 1968 einer der sechs Präsidenten des Weltkirchenrates.

Ein eindrückliches Beispiel von Zivilcourage fand ich im Handeln von Rosa Parks (1913 – 2005), einer schwarzen Frau, welche in Montgomery, Alabama lebte und „Mutter der Bürgerrechtsbewegung“ genannt wird. 1955 war die Rassentrennung in Alabama allgegenwärtig. Rosa Parks fuhr am 1. Dezember 1955, müde von der Arbeit mit dem Bus nachhause. Entgegen der Vorschrift weigerte sie sich, einem weissen Fahrgast ihren Sitz im Bus frei zu geben, und wurde verhaftet. Damit löste sie in den USA eine neue Welle der Bürgerrechtsbewegung aus. Sie soll gesagt haben: „Das einzige, was ich mir vorwerfe, ist, dass wir so lange gewartet haben mit unserem Protest!“.

So dramatisch, sogar lebensgefährdend, wie in den oben erwähnten Beispielen sind die Verhältnisse in unserer gut geordneten Schweiz der Gegenwart nicht. Was hält uns denn trotzdem davon ab, in einer gegebenen Situation zivilcouragiert zu sprechen oder zu handeln? Da verfügen wir über viele Argumente. „Was gehen mich andere an“, denken wir etwa. Oder „Du bekommst nur Ärger, wenn Du Dich einmischest“. „Es bringt Dir sicher nichts ein“. „Man kann ja doch nichts ändern.“ Ganz „schlau“ finde ich das folgende Alibi: „Wer bin ich denn schon, auf mich kommt es doch nicht an!“

Dabei lehrt uns doch die Geschichte, dass es immer wieder einzelne Menschen sind, die mit im Augenblick unbedeutend scheinenden Handlungen wichtige Entwicklungen in Gang setzen können. Ohne dass sie selbst oder jemand anderer das vorausgesehen hätte.

Es kann auch Angst sein, die Handeln aus Zivilcourage hindert oder begleitet. Es ist nicht gewöhnliche Angst, meist haben wir, objektiv gesehen, gar nichts zu befürchten. Aber es hindert uns ein eigenartiges Gefühl, unter vielen Menschen mit der eigenen Meinung, der eigenen Ansicht, dem eigenen Handeln, ganz allein da zu stehen.

Die deutsche Bundestagsabgeordnete Hildegard Hamm- Brücher (1921 – 2016) sagte vor Jahren in einem Vortrag in Luzern: „Mut besteht aus vielen Mütchen“. Sie meinte damit, dass das Mut Haben geübt werden kann, in kleinen Schritten. Sie war für uns Frauen ein grosses Vorbild, weil sie ihre Zustimmung verweigerte, als Helmut Schmidt (1918 – 2015) 1982 im deutschen Bundestag durch ein konstruktives Misstrauensvotum (was für eine Formulierung...) gestürzt worden war. Sie hatte ihre Meinung am Rednerpult deklariert. Der ganze eindrückliche Vorgang war am Fernsehen übertragen worden. Für längere Zeit war sie dann zur „persona non grata“ geworden und hatte ihre Ämter verloren. Der Preis für ihre persönliche Integrität war hoch gewesen, aber sie hatte ihn bezahlt.

Zivilcouragiert zu handeln kann man in der Tat üben. Vielfach beginnt es damit, in einer Runde, einer Gruppe, einer Sitzung überhaupt zu sprechen, bevor man sich getraut, eine abweichende Meinung zu äussern. Wichtig wäre auch, jemanden, der sich gegen eine Mehrheitsmeinung wendet, zu unterstützen. Sein Argument zu bestätigen. Oder wenigstens als wertvollen Beitrag zur Diskussion zu werten. Das sind übrigens Ratschläge, die für jungen Politikerinnen und Politiker, die neu im Feld sind, hilfreich sein können.

Wir leben in der Schweiz in einem freien Land. Der Respekt vor einer anderen Meinung gehört zur nicht verzichtbaren Grundausstattung unserer Demokratie. Das tönt angesichts der allgemeinen Globalisierung und Digitalisierung etwas naiv. Ist es aber nicht!

Zur Person

Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.

 4.April  2019