Paul Huber. Bild: Joseph Schmidiger

Der Ast

Von Paul Huber

Sie hätten in ihrem Garten vier Bohrungen von über 200 Metern Tiefe vorgenommen und würden so zukünftig viel weniger CO2 produzieren, erzählte mir kürzlich eine Freundin bei einem süffigen Glas Wein. Es habe aber doch wirklich eine Sonderbewilligung gebraucht, um einen etwa armdicken Ast von einem Baum entfernen zu dürfen und so sicherzustellen, dass die Bohrmaschine ihren segensreichen Beitrag zur Klimarettung erbringen konnte. So weit, so mühsam. Aber das pingelige Getue des übereifrigen Umweltschutzbeamten wegen eines Astes habe sie nicht nur viel zusätzliches Geld, sondern auch noch den letzten Nerv gekostet.

Die Schilderung endete mit der Feststellung, dass sie langsam verstehe, weshalb sich so viele – durchaus staatstreue – Bürger*innen gegen all diese Regulierungen aufzulehnen begännen. Ich war geneigt, ihr Recht zu geben, mehr noch, ihr zu empfehlen, einen nächsten störenden Ast doch einfach abzusägen. In diesem einsamen Villenquartier würde das bestimmt niemand merken. Prost!

Zuhause, mit etwas Distanz und in jeder Beziehung nüchterner, regten sich Zweifel. Es war ja nicht zum ersten Mal, dass man mich als ehemaligen Politiker unter Anrufung des gesunden Menschenverstands mit schwer nachvollziehbaren Sachverhalten konfrontierte. In der Exekutive, zuständig für bei Betroffenen so «beliebten» Themen wie Denkmal- oder Naturschutz war das mein Alltag. Oft hätte ich mir bei im Einzelfall schmerzlichen staatlichen Eingriffen etwas mehr Spielraum erträumt und mir gewünscht, eine Regulierung vernachlässigen zu können. Um beim Beispiel zu bleiben, den Ast einfach absägen zu lassen.

Wäre die Welt so eine bessere? Haben jene Recht, die bei jeder Gelegenheit das Credo der Deregulierung predigen als Allheilmittel gegen staatliche Willkür und Bevormundung, als Voraussetzung für Wirtschaftswachstum und Wohlstand? Unbegrenzt frei sein, sich unbegrenzt entfalten können, am besten ohne Staat?

Auf internationaler Ebene wird die Antwort auf solche Fragen aktuell frei Haus geliefert. Völkerrecht? Es hält sich ja ohnehin keine der Weltmächte mehr dran. Die Menschenrechtskonvention EMRK? Ein Relikt aus der Zeit, als die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch gegenwärtig waren. Klimaabkommen? So what, dann erreichen wir die Ziele eben nicht. Regeln für den Welthandel? Ja, wenn sie uns nützen. Dopingregeln für Fairness im Spitzensport? Anything goes sagt Donald Trump jun. und lanciert mit seinen Kumpeln die «Enhanced Games».

Der Prozess der Gewöhnung an Regelbrüche der Mächtigen schreitet voran. «Ich bin Präsident, ich kann machen, was ich will.» Dabei ist es ja nicht so, dass die Regelbrecher keine Regeln wollen. Sie wollen sie einfach selber machen und verletzen, willkürlich und notfalls mit Faustrecht. Mit der Folge, dass in der Gesellschaft das Vertrauen in eine durch Regeln geprägte Ordnung bröckelt, der Regelbruch verharmlost wird und sich Unsicherheit breit macht. Schummeln an der Selfscanning-Kasse oder Schwarzfahren im Nahverkehr? Sich einfach nicht erwischen lassen. Einen Ast absägen? Ja eben, hatten wir schon.

Regeln sind nie für die Ewigkeit gemacht. Regeln müssen immer wieder auf Sinn und Tauglichkeit überprüft und im Alltag verhältnismässig angewendet werden. Insofern haben die Deregulierer einen Punkt. In einer freien und demokratischen Gesellschaft ändern sich Regeln dauernd: Das Konkubinatsverbot fiel, als immer mehr junge Leute sich nicht mehr daran hielten; die Krawattenpflicht in Rats- und Konzertsälen ging schleichend vergessen; kantonale Angestellte ziehen nicht mehr den Hut, sondern duzen ihre Regierungsrät*innen; das Recht auf körperliche Züchtigung durch Eltern und Lehrer, längst ein No-Go. Regeln entstehen auch neu: Das Rauchen in öffentlichen Räumen wurde geächtet, dann verboten; auf Druck der engagierten Bürger*innen wurden Moore und markante Einzelbäume als wertvoll eingestuft und geschützt, als es fast keine mehr gab.

Wir können und dürfen uns als Betroffene über Gesetze und deren Vollzieher aufregen. Alle laufen gelegentlich an einer Regel auf, die sie nicht verstehen (wollen). Der feine, aber entscheidende Unterschied zur Willkür von Autokraten: Unsere geschriebenen und ungeschriebenen Beschränkungen der individuellen Freiheit entwickeln sich aus der Bevölkerung heraus. Die Politik fügt sie in demokratischen Prozessen ins Rechtssystem ein. Und sie gelten dann für alle. Selbst um den Preis, dass sich eine Tiefenbohrung verzögert.

So viel muss uns die regelbasierte Demokratie wert sein. Sie ist der kostbare und zerbrechliche Ast, auf dem wir alle selbst sitzen.

12. September 2025 – paul.huber@luzern60plus.ch
 

Zur Person
Paul Huber, geboren 1947, war vor seiner Wahl in den Regierungsrat des Kantons Luzern als Primarlehrer, Lehrplanentwickler und Gewerkschaftssekretär im Zentralsekretariat des VPOD tätig. Nach 16 Jahren Tätigkeit im Justiz-, Gemeinde- und Kulturdepartement (1987 bis 2003) hatte er verschiedene staatliche, privatwirtschaftliche und gemeinnützige Führungsfunktionen inne. Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens stehen für den promovierten Historiker noch immer im Zentrum seines Interesses.